Alissa Walser: "Es geht um eine andere Form der Liebe, als wir sie aus der Vorabendserie kennen. Es geht nicht um Verliebtsein oder den Sexus, es geht um einen weiter gefassten Begriff".

Foto: A. Buxhoeveden

Wien - Der Arzt und Magnetiseur Franz Anton Mesmer (1734-1815) war eine schillernde Persönlichkeit - und er ist ein dankbares literarisches Thema. Unter anderen setzten sich Edgar Allen Poe, Stefan Zweig und vor einigen Jahren Per Olov Enquist mit dem umstrittenen Heiler auseinander. Um dessen spektakulärsten Misserfolg, die misslungene Heilung der früh erblindeten Musikerin Maria Theresa Paradis (1759-1824) im Jahr 1777, dreht sich nun auch Alissa Walsers erster Roman Am Anfang war die Nacht Musik.

Obwohl die "begnadete Klavieristin" , wie auch historische Quellen berichten, das Augenlicht zeitweilig wiedererlangte, sollte Mesmers Behandlung längerfristig kein Erfolg beschieden sein. Dadurch zerschlug sich nicht nur seine Hoffnung auf akademische Anerkennung. Aufkommende Gerüchte, er habe eine Verhältnis mit seiner Patientin, ließen ihn in Wien zur Persona non grata werden. Er ging nach Paris. Alissa Walser, Bachmannpreis-Trägerin des Jahres 1992, bedient sich nun dieses historischen Stoffes als Folie für einen Roman über die Macht der Musik, das Scheitern des Gefühls am Verstand und die Heilung durch das Gespräch.

Standard: In Ihrem Roman geht es um das Unsichtbare, das Unsagbare auch.

Walser: Mir wäre lieber, wir könnten uns auf das Nichtgesehene und das Nichtgesagte einigen. Es geht um die Begegnung zwischen einer blinden Musikerin und einem Arzt. Ich habe in diesem Sujet viel wiedergefunden, was mich schon in meinen vorherigen Büchern thematisch interessiert hat. Die Begegnung zwischen Mann und Frau, der Körper als Spiegel des Zeitgeistes ...

Standard: Paradis war bei einigen berühmten Ärzten erfolglos in Behandlung. Dann kam sie zu Mesmer ...

Walser: ... und ich gehe davon aus, dass sie durch seine Behandlung zumindest zeitweilig wieder sehen konnte. Das heißt, er muss etwas anders gemacht haben als die anderen. Was das war, hat mich interessiert. Von Anfang an waren weder Mesmer noch Paradis meine Hauptfigur, es ging mir um die Figur zwischen den beiden.

Standard: Wie meinen Sie das?

Walser: Ich komme aus der Malerei. Hat man auf einem Bild, das ja eine Fläche ist, zwei Figuren, so ergibt sich zwischen diesen ebenfalls eine Fläche. Im Englischen nennt man sie "negative space" . Das ist der Bereich, der mich interessiert hat.

Standard: Und dieser Zwischenbereich hat etwas mit der zeitweiligen Heilung Paradis' zu tun?

Walser: Ja, denn das, was die beiden trennt, verbindet sie auch. Das gegenseitig Verbindende ist der Gegenstand dieser Beziehung. Das Heilende einer Beziehung ist das Menschliche. Von Paradis kann man sagen, dass ihre Verkrustungen auftauen. Von Mesmer kann man sagen, dass er das hatte, was wir aus heutiger Sicht psychologisches Einfühlungsvermögen nennen.

Standard: Würde Mesmer heute als Esoteriker gelten?

Walser: Das Wort Esoteriker hat heute einen sehr negativen Klang. Ursprünglich bedeutete es "Eingeweihter" ; natürlich könnte man jetzt sagen, welcher Wissenschafter ist denn kein Esoteriker? Aber gut, ich denke, aus heutiger Sicht, hatte Mesmer bestimmt Zugang zu unbewussten Phänomenen und Kräften. Sein Problem war, dass er dafür keine Sprache finden konnte, die von der Wissenschaft akzeptiert worden wäre.

Standard: War Ihnen die Art, wie Sie das Buch schreiben wollten, in dieser genauen und behutsamen Sprache, von Anfang an klar?

Walser: Ich muss mir immer alles erschreiben. Jede Figur, jeden Ort, alles. Die Sprache entsteht im Schreiben. Ich habe die dritte Person gewählt und versucht, die Gedankenflüsse und inneren Monologe in der dritten Person zu schreiben. Damit kann ich eine große Nähe produzieren und habe gleichzeitig eine vorsichtige Distanzmöglichkeit. Dazu entsteht im Leser das Gefühl, dass sich die Figuren gleichzeitig bewegen und bewegt werden. Mit einer Ich-Figur hätte das weniger gut funktioniert. Das Ich produziert zu viele Urteile, äußert zu viele Absichten.

Standard: Mesmer ist es auch in Paris nicht gut ergangen. Allerdings scheint die Wiener Bösartigkeit im Buch hinterhältiger, subtiler.

Walser: Natürlich war in der Zeit, in der das Buch spielt, die Pariser Gesellschaft viel aufgeklärter, da bewegte sich ja alles schon auf die Revolution zu. Mesmer hatte dort Schüler, wurde - anders als in Wien nach dem Fall Paradis - nicht ausgeschlossen. Überall, wo Mesmer auftrat, hat er Erfolg gehabt. Er wünschte sich aber nicht Erfolg, er wollte von den Akademien anerkannt sein. Er hatte ein großes Bedürfnis nach Harmonie. Die große Harmonie des Einzelnen wie der Gesellschaft.

Standard: Und die Liebe? In Ihren früheren Büchern ging es, wie Sie sagen, eher ums "Eindringen" , nun ums "Durchdringen" . Hat Mesmer im Buch Eheprobleme mit seiner Frau Anna?

Walser: Über Anna möchte ich nicht viel sagen, weil sie nur durch meine beiden Protagonisten gespiegelt vorkommt. Und die Liebe. Ja, es geht um eine andere Form, als wir sie aus der Vorabendserie kennen. Es geht nicht um Verliebtsein oder den Sexus, es geht um einen weiter gefassten Begriff von Liebe. Ich habe das einmal so ausgedrückt: Die beiden müssen einfach durcheinander durchgehen oder einander durchdringen. Und das hat beiden auch viel gebracht, denke ich.  (Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe 19.01.2010)