Traditionell war einmal die Ausübung des Jobs, das Gewissen Österreichs zu verkörpern, an die Hofburg gebunden, und die Bundespräsidenten seit 1945 haben ihn, von kleinen Ausreißern abgesehen, auch zur allgemeinen Zufriedenheit ausgefüllt. Dabei leicht über die Stränge zu schlagen, etwa durch die Forderung nach Ausmerzung saurer Wiesen oder menschlicher Behandlung ausländischer Rehaugeninhaberinnen, wurden daher auch nie ernsthaft auf jene mediale Goldwaage gelegt, auf der ihre historische Bedeutung gewogen wird.

Seit der Ehrgeiz, als Darsteller des Gewissens Österreichs an die Öffentlichkeit zu treten, auch von Wesen außerhalb der Hofburg Besitz ergriffen hat, ist dieses Privileg nicht mehr an eine Volkswahl gebunden. Es reicht dafür die Salbung durch einen Einzelnen, und schon treten Gewissensbesitzer namens Weinpolter oder Pestitschek in Konkurrenz zum Staatsoberhaupt. So sehr, dass sich ein Wiener, von Beruf ADir., Montag im kleinformatigen Zentralorgan für politische Moral zu folgender Forderung gehalten fühlte. Mich würde interessieren, ob unser HBP, der Bundeskanzler und alle anderen Minister die Briefe an den Herausgeber der "Kronen Zeitung" ("Das freie Wort") auch lesen und sich über diese oft sehr wichtigen Themen, Vorschläge und Anliegen der Schreiber (z. B. Weinpolter, Pesti-tschek etc.) Gedanken machen. Vermutlich nicht, denn sonst würden sie z. B. unsere gesamte Politik nicht zuerst an der EU und dann erst an Österreich ausrichten. Unsere Politiker müssen endlich wieder einmal zuerst für Österreich da sein. Also, Politiker, meldet euch, ob ihr die Anliegen der Schreiber auch lest, euch darüber Gedanken macht und reagiert, oder denkt ihr nur von einer Legislaturperiode zur nächsten?

Um die Bedeutung dieses Appells zur Gewissenserforschung vor dem Beichtspiegel der Exorzisten vom Schlage Weinpolters und Pestitscheks zu unterstreichen, fand er sich fettgedruckt als Eröffnung der Seite. Neu daran war nicht das Gelaber gegen die EU, neu daran war, dass lau formulierte Wischiwaschi-Briefe, wie der des Bundeskanzlers an den Puppenspieler als Nachweis des Gewissens nicht mehr genügen, viel mehr künftig Politiker vom Staatsoberhaupt abwärts nachzuweisen haben, ihren Weinpolter, ihren Pestitschek nicht nur gelesen, sondern auch zur Richtschnur ihres Wirkens gemacht zu haben. Warum unter diesen Umständen Hans Dichand den Weinpolter nicht gleich für die Hofburg kandidieren lässt und der SPÖ den Pesti-tschek anstelle Werner Faymanns empfiehlt, bleibt im Vorhof der Machtdunkel.

Einen Tag zuvor hatten Weinpolter und Pestitschek als Gewissensträger der Nation noch harte Konkurrenz. Da rückte der Spezialist des Blattes für klerikale und monarchistische Schnulzen, Dieter Kindermann, mit einem Geburtstagsgeschenk unter dem Titel Der Kardinal - das Gewissen Österreichs an. Welche moralischen Verdienste, die viele andere in diesem Land nicht auch haben, speziell auf den Kirchenfürsten zutreffen, war dem Beitrag nicht zu entnehmen, sieht man von dem Satz ab: Manchmal schlägt Christoph Schönborn die Stirn in Sorgenfalten. Aber nicht einmal damit ist er allein.

Die Situation der Kirche ist in Wien nicht allzu rosig, erstmals ist die Zahl der Katholiken unter 50 Prozent gefallen. Schlüge der Kardinal seine Stirn nicht nur darüber in Sorgenfalten, sondern in seiner wöchentlichen Kolumne gelegentlich auch über das, was auf den Leserbriefseiten und an anderen Stellen des Blattes Wellen schlägt, könnte man in dieser Erhebung zum Gewissen Österreichs mehr erkennen als einen plumpen Versuch des "Krone"-Herausgebers, auf dem Umweg über seinen schweigenden Beiträger ad maiorem dei gloriam sich selbst samt seinen Weinpolters und Pestitscheks zu diesem Gewissen zu erhöhen.

"Möglichst vielen Menschen ein Dach über der Seele anbieten" mag ein edles Anliegen sein, es ist aber das Gegenteil dessen, was auf den Leserbriefseiten täglich gepredigt wird. Weit entfernt, vielen Menschen wenigstens ein Dach über dem Kopf anzubieten, regiert dort Hass gegen Menschen, die das Pech haben, nicht unter das Gewissen Österreichs zu fallen, weil sie Ausländer sind, und gegen alle, die das nicht richtig finden. Unter dem Dach der "Kronen Zeitung" walten christliche Nächstenliebe und brutaler Fremdenhass friedlich nebeneinander zur Maximierung des Gewinns. Da lässt sich sogar eine Maria Fekter problemlos als Mutter Teresa verkaufen.(Günter Traxler, DER STANDARD; Printausgabe, 19.1.2010)