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Szenen aus Haiti: Belgische Ärzte nehmen in einem provisorischen Spital eine Beinamputation an einer jungen Frau vor

Foto: REUTERS/Wolfgang Rattay

Port-au-Prince - Der sechste Tag nach dem Erdbeben beginnt, die Aufräumarbeiten gehen weiter. Die haitianische Regierung hat den Notstand ausgerufen. Einige große Straßen sind mittlerweile geräumt, an deren Fahrbahnrändern beginnt sukzessive so etwas wie Alltag einzukehren. Straßenhändler präsentieren ihr Angebot auf Pappschachteln - auch wenn das Angebot wie Zahnpasta oder Desinfektionsmittel für Hände nicht immer das darstellt, was das Hauptproblem der Menschen ist.

"Comiteé 36. We need water, food, medicine", ist auf einem Leintuch geschrieben, das an einer stehengebliebenen Hauswand hängt. Auf der Fläche dahinter sind die Zelte von Obdachlosen zu sehen. In manchen Straßen in den Vororten von Port-au-Prince bietet sich ein seltsames Bild. Manche Häuser stehen, zumindest äußerlich, unbeschädigt da, dazwischen ist ein zweistöckiges Gebäude in einen drei Meter hohen Schutthaufen zusammengefallen. Mehr als die Hälfte der Gebäude in Port-au-Prince soll zerstört worden sein.

Rauch und Gestank 

Ein ständiges Hupen erfüllt die Luft. Die Autos bahnen sich langsam einen Weg durch die Fußgängermassen. Die Menschen, die von der Verteilungsstellen der Hilfsorganisationen kommen, schleppen mit sich, was sie bekommen haben. Mütter tragen große Plastikflaschen auf dem Kopf, ihre Kinder daneben Säcke mit Lebensmittel. Viele haben Masken vor dem Mund, aus Angst vor Krankheitserregern, oder weil sie aus Gegenden kommen, wo der Gestank der in der stickigen Hitze verwesenden, noch ungeborgenen, Leichen, das Atmen schwer macht. Den Leichen fehlen zum Teil die Füße, die Köpfe sind meist abgedeckt. An mehreren Stellen wurden kleine Feuer gelegt, in denen Leichen, Gerümpel oder Müll verbrannt werden.

In vollkommen überfüllten Bussen versuchen Menschen, in die Dominikanische Republik zu gelangen - wobei die Grenze für Flüchtlinge nicht überwindbar ist.

Langsam kommt auch die Hilfe im Katastrophengebiet an - trotz Koordinationsproblemen. Am Montag sollten 12.000 US-Soldaten eintreffen.

Einsätze brauchen Koordination

"Das wichtigste an Katastropheneinsätzen ist eine möglichst rasche Koordinierung, am besten durch die Vereinten Nationen", sagt Marketa Kutilva. Die Koordinatorin für "People in Need", einer der größten tschechischen NGOs, sagt, sie habe die Erfahrung gemacht, dass vor allem kleine Organisationen sich oft nicht mit anderen absprächen, sagt sie. "People in Need" kümmert sich um Wasseraufbereitung, Ernährung und psychologische Betreuung von Kindern.

Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" ist unterdessen mit der Suche nach geeigneten Operationsmöglichkeiten beschäftigt. Das aufblasbare Krankenhauszelt, in dem in zwei OP-Sälen Verletzte behandelt werden könnten, wird erst verspätet in Port-au-Prince eintreffen. Eines der Transportflugzeuge hat angeblich keine Landeerlaubnis für den Flughafen von Port-au-Prince erhalten, musste in die Dominikanische Republik fliegen. 70.000 Tote sollen bereits begraben worden sein. Manchen Verletzten würden zerquetschte Gliedmaßen auf offener Straße amputiert, berichtete ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am Montag.

Angst vor Seuchen

Auch die Angst vor Seuchen steigt, weshalb von Helfern, etwa vom Roten Kreuz, vor allem der Aufbereitung von Trinkwasser und der Aufbau von Sanitäranlagen forciert wird.

Die Nachrichten über Plünderungen und Unruhen reißen nicht ab: Beim Präsidentenpalast soll die Polizei Tränengas gegen Plünderer eingesetzt haben. Immer wieder ist von Schüssen und tumultartigen Szenen bei der Ausgabe von Hilfsgütern zu hören. Sonntag soll sich eine Menschenmenge an den Leichen von zwei mutmaßlichen Plünderern versammelt haben, die von aufgebrachten Einwohner erschlagen worden waren.

Laut Augenzeugen ziehen vermummte junge Männer mit Macheten durch die Stadtviertel. Die Behörden warnten davor, dass sich die Gewalt weiter ausbreiten könnte. Doch in all dem Elend geschehen auch noch Wunder: Sonntagabend wurden aus den Trümmern noch fünf Überlebende geborgen. (DER STANDARD Printausgabe, 19.1.2010)