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Tausende Obdachlose leben in Haiti nach dem schweren Beben in Zeltstädten, wie hier nahe dem Flughafen von Port-au-Prince

Foto: APA/MARCO DORMINO

"Sein Fuß ist tot", ist das Einzige, was der Mann sagt, während er auf seinen Freund deutet. Der sitzt in einem Winkel, scheinbar entspannt, das linke Bein ausgestreckt. Erst auf den zweiten Blick wird klar, woher der furchtbare Gestank kommt - der gesamte Unterschenkel ist an mehreren Stellen offen, entzündet, die Fliegen surren herum. Das Problem: Es gibt hier, im New Mission College in Léogâne auch sechs Tage nach dem Beben keinen Doktor, der das Bein heilen oder amputieren könnte. Die Stadt, das Epizentrum des Erdstoßes, ist zwar nur eine knappe Stunde Autofahrt von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, doch Retter haben sich hier noch kaum blicken lassen.

Zwei Spitäler und eine psychiatrische Anstalt gab es hier, alle wurden schwer beschädigt, sämtliche Patienten und Ärzte nach Port-au-Prince gebracht. Um die Bebenopfer kümmert sich niemand. Das College, in dessen Räumen noch mathematische Gleichungen auf der Tafel stehen, ist jetzt ein Notsammellager.

Bein mit Flasche geschient

"Wir sind eine Stunde zu Fuß gegangen und keiner ist hier", schildert Pierre Cerdenson. Er trägt seinen kleinen Sohn auf dem Arm, dessen Bein notdürftig mit einer Fasche umwickelt ist, gebrochen wahrscheinlich. "Wir wissen nicht, wo wir jetzt hingehen sollen, vielleicht zur Uno."

Nicht weit entfernt ist das Army Camp Brache. "UN" steht in schwarzen Buchstaben auf dem weißen Tor, das fest verschlossen ist. Davor eine Gruppe Menschen. Eine von ihnen ist Caroline Mervilous. Die 35-jährige aus Haiti stammende Kanadierin war auf Urlaub bei Verwandten, als die Erde bebte. Sie rannte hinaus, ein zweijähriger Bub tapste hinter ihr und fiel durch den Erdstoß hin. "Ich bin zurück, habe ihn an seinen kleinen Händen gepackt, um ihn weiterzuziehen, als ich plötzlich selbst zu Boden geschleudert wurde." Sie schafften es dennoch unverletzt hinaus, eine Tante überlebte nicht.

Wütend sei sie, da die Uno hier niemandem helfe und auch sonst keiner komme. Tatsächlich scheint die Einsatzbereitschaft der hier stationierten srilankischen Einheit enden wollend zu sein. Hundert Meter weiter stehen sechs von ihnen auf einer kleinen Mauer neben einem Feld. Hier soll eigentlich der Boden für die Errichtung eines Feldhospitals vorbereitet werden. Doch davon merkt man nichts.

Fährt man weiter ins Zentrum der Stadt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Während in Port-au-Prince durchaus Gebäudegruppen noch stehen und manche Viertel deutlich weniger betroffen sind, ist hier praktisch alles kaputt. Eine Kirche steht noch, ein paar niedrige Häuser - und die einzige kleine Betontribüne am Rande des Spielfeldes des Anacaona Sportif Club. Das gesamte Spielfeld hat sich in eine Zeltstadt verwandelt.

"Es werden etwa 5000 Menschen sein", schätzt Anthony Paul. Der 59-jährige US-Amerikaner ist Teamleiter der National Association for the Prevention of Starvation (NAPS). Seine kleine Einheit ist neben Ärzte ohne Grenzen die einzige Organisation, die bisher hier war. Die Aufgabe seiner Gruppe: Kranke zu begutachten, um einzuschätzen, ob sie in ein Krankenhaus gebracht werden müssen oder vor Ort behandelt werden können.

Was nicht einfach ist, denn es fehlt an Material. "Wir haben keine Schienen für Knochenbrüche mehr. Daher nehmen wir jetzt Holzlatten von Kisten, die wir zerschlagen haben." Auch der Abtransport von Kranken nach Port-au-Prince ist schwierig. In einer der Schlafstätten, gebaut aus Holz- oder Metallstäben und mit Plastikplanen oder Stoff abgedeckt, um sich vor der brütenden Hitze zu schützen, liegt eine alte Frau. Immer wieder zuckt sie. „Sie ist auf den Kopf getroffen worden, seitdem hat sie Krampfanfälle." Ob sie nicht sofort in ein Spital gebracht werden sollte, da ja vielleicht das Gehirn geschädigt sein könnte? "Das hat keinen Sinn. Wenn man nicht blutet, wird man kaum aufgenommen." Maximal 30 Patienten pro Tag konnte Paul bisher überstellen lassen.

Angst vor der Cholera

Während er weiter durch die schmalen Durchgänge zwischen den Unterständen schlendert, verrät Paul seine größte Angst: "Die Voraussetzung für den Ausbruch der Cholera ist da." Toiletten gibt es nicht, jeder verrichtet seine Notdurft auf dem Boden. "Es reicht unter diesen Umständen dass sich einer infiziert, dass das ganze Lager betroffen ist."

Ein wenig Hoffnung gibt es für die Menschen im New Mission College dennoch: Es sollen Ärzte kommen. Nicht von den großen westlichen Hilfsorganisationen, sondern aus Kuba. Wann genau, weiß aber niemand. (Michael Möseneder aus Léogâne/red, DER STANDARD, Printausgabe, 20. Jänner 2010)