Bürgermeister James Young vor der Gedenktafel für die drei ermordeten Bürgerrechts-aktivisten: "Ein paar Idioten wird es immer geben."

Foto: Frank Herrmann

Eine kleine Sensation ein Jahr nach Obamas Wahl.

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Manchmal, sagt James Young, muss er sich zwicken, damit er merkt, dass er nicht träumt. "Was, das bist du, der hier hinterm Schreibtisch sitzt? James A. Young, du bist Bürgermeister?"

Es ist kein schöner Schreibtisch, kein schönes Büro. Aktenberge, Billigtapete, kein Bild an den Wänden, der hässliche Flachbau der City-Hall lässt an die Baracke eines drittklassigen Footballklubs denken. Und Städte wie Philadelphia gibt es zu Hunderten in der Provinz, Städte ohne Gesicht, austauschbar. Fastfood-Restaurants, Banken, die wie Kirchen aussehen, Reklametafeln - das Übliche. Dass James Young sich mitunter immer noch kneift, liegt an seiner Hautfarbe. Er ist der erste schwarze Bürgermeister von Philadelphia, Mississippi.

Ein Jahr, nachdem Barack Obama Geschichte geschrieben hat, versucht das kleine Philadelphia mit seinen achttausend Einwohnern, die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. Es ist keine Revolution, eher sind es kleine Schritte in die Normalität. Es geht um Dinge wie Parkstrafzettel, und Young ist ein ausgesprochen bescheidener Held. Im Alltag sagt er Sätze, wie sie jeder routinierte Politiker im Repertoire hat. "Mein Programm ist der Wandel" , solche Sätze. Bohrt man weiter, erzählt er von der Sache mit dem Auto. Der Sache, die ihm half zu gewinnen.

Rayburn Waddell, sein Vorgänger, hatte sich als Dienstwagen einen funkelnagelneuen Jeep zugelegt, einen Chevy Tahoe, acht Sitze, fast drei Tonnen schwer. Dass er ihn mitten in der Rezession bestellte, nahmen ihm selbst seine Anhänger übel. Zuvor hatten sie Waddell zweimal in Folge ins Rathaus delegiert, nun schien er abzuheben. So etwas wird schnell bestraft in einer Kleinstadt mit prekärer Kassenlage. Young dagegen fuhr einen verbeulten Ford, Baujahr 1981. "I'll work my socks off" , versprach er, die Hacken wolle er sich ablaufen. Der alte Ford gegen den neuen Tahoe, eisernes Sparen gegen Großkotzigkeit, darauf lief es am Ende hinaus.

So war das im Wahlkampf im Mai. Dennoch, Jim Prince gab dem Herausforderer "nicht die allergeringste Chance" , wie er noch heute betont. Als Herausgeber des Lokalblatts schrieb er seinerzeit, Waddell steige offensichtlich die Macht zu Kopf. Worauf er sich anhören musste, was ihm einfalle, gegen den eigenen Mann zu sticheln - gegen einen Weißen. Die alten Seilschaften, glaubte Prince, würden Young ausbremsen.

Mit Seilschaften ist es so eine Sache in Philadelphia. 40 Jahre lang funktionierten sie, um nach einem schockierenden Verbrechen eine Mauer zu bilden, eine Mauer aus Heuchelei, Lüge, Angst und Vertuschung. Am 21. Juni 1964 wurden hier, im tiefen Süden der USA, drei junge Männer ermordet: der Schwarze James Chaney und die beiden Weißen Andrew Goodman und Michael Schwerner. Sie waren durch Mississippi gezogen, um Afroamerikaner, denen das Wahlrecht verweigert wurde, in Wählerlisten einzutragen. Vom Ku-Klux-Klan in einen Hinterhalt gelockt, wurden sie erschossen und in einem Erdwall vergraben.

Der alte Buchhändler Steven Stubbs erzählt, wie er damals unter Druck gesetzt wurde, vom Citizens' Council, dem Ku-Klux-Klan der Biedermänner, wie er ihn nennt. Eingeladen zu einer Versammlung, ging er nicht hin. Am nächsten Tag bekam er Besuch. "Wir wissen, dass du breite Schaufenster hast" , drohte der Mann. Stubbs mag niedrige Steuern und knappe Sozialleistungen, Amerika bedeutet für ihn, "dass du deinen Hintern schon selbst hochkriegen musst" . Er hat John McCain unterstützt, nicht Barack Obama. Im Neshoba County, zu dem Philadelphia gehört, erhielt Obama nur 27 Prozent der Stimmen. James Young kam auf 52 Prozent. Seine zupackende Art, früher Footballspieler: Stubbs mag Typen wie Young.

Ohne den Obama-Effekt, betont der neue Bürgermeister, hätte er trotzdem verloren. Ein Präsident mit dunkler Haut, das habe die letzten Schranken niedergerissen, auch in den Südstaaten. "Da wusste ich, dass alles möglich ist."

Youngs Vater lag in den finstersten Tagen hinterm Wohnzimmerfenster, das Gewehr im Anschlag. Er hatte Angst vor dem Klan, und er wollte sich wehren. Seinen begabten Sohn schickte er Mitte der Sechziger auf eine gute Schule, die "weiße" Schule. James war der einzige Farbige seiner Klasse. "Manchmal hat mir einer was Dummes hinterhergerufen. Ich hab's ausgehalten" , sagt er, so beiläufig es geht. Dann kann er nicht weiterreden. Verlegen wischt er sich die Tränen weg.

Heute fährt Young morgens und abends durch seine Stadt, um nach dem Rechten zu sehen. Jede Müllecke, jedes Schlagloch notiert er sich. Schon dreimal war er in Washington, um für die Belange Philadelphias zu kämpfen. Im Armenviertel, im alten Schwarzenviertel, lässt er erledigen, was nie erledigt wurde - es war eine fremde Welt für die weißen Ratsherren. Abwasserrohre werden verlegt, ein verfallenes Altersheim wird abgerissen. Und an einer Landstraße markiert seit September eine Gedenktafel die Stelle, wo Chaney, Goodman und Schwerner umgebracht wurden. Zuletzt hat sie jemand mit drei Buchstaben beschmiert, KKK, Ku-Klux-Klan. "Wir haben's abwaschen lassen" , sagt Young achselzuckend. "Ein paar Idioten wird es immer geben, zu jeder Zeit und überall." (Frank Herrmann aus Philadelphia, DER STANDARD, Printausgabe 20.1.2010)