Die kolumbianische Sopranistin Juanita Lascarro interpretiert Poppea als unschuldiges Mädchen wie auch als bedingungslos liebende Frau.

Foto: Vereinigte Bühnen

Standard: Sie sind ein Poppea-Profi: Nach einer Produktion in Ihrem Stammhaus in Frankfurt und einer Harnoncourt-Flimm-"Poppea" in Zürich, als Sie für die erkrankte Vesselina Kassarova eingesprungen sind, haben Sie die Rolle im Theater an der Wien nun mit dem Hausregisseur Robert Carsen erarbeitet. Wie waren die Proben?

Lascarro: Inspirierend. Und intensiv. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, und bei Carsen kann ich vieles ausprobieren, an meine Grenzen gehen. Manchmal spielt Carsen das, was man gerade geprobt hat, selbst vor und fungiert so als eine Art Spiegel: Man erkennt die Unstimmigkeiten in der eigenen Darstellung. Er weiß genau, was er will, und lässt nicht locker, bis er genau dort ist, wo er hin will.

Standard: Nikolaus Harnoncourt schildert in einem Buch die Poppea sehr negativ als Straßendirne, die besitzen und beherrschen will. Sehen Sie das auch so, oder hat sie in Ihren Augen auch positive Züge?

Lascarro: Ich sehe ihren Charakter vielschichtiger. Auch eine Hure ist nicht nur eine Hure, sondern vor allem auch eine Frau mit einer eigenen Geschichte. Manchmal empfinde ich sie als unschuldiges Mädchen, dann wieder als eine bedingungslos liebende Frau. Das muss und möchte ich alles zeigen.

Standard: Ihr Nerone in Zürich war der Tenor Jonas Kaufmann; hier in Wien singt den Part Jacek Laszczkowski als Sopran. Wie empfinden Sie denn diese unterschiedlichen Besetzungen?

Lascarro: Die Zürich-Inszenierung war dominiert von einer sachlich-kühlen Atmosphäre der Macht, ich habe mich gefühlt wie Hillary Clinton im Weißen Haus. Natürlich gab es da auch jede Menge Leidenschaft zwischen den Figuren. Aber Jonas' Nerone war eher nobel, Jacek hingegen hat einen eher männlichen, energiegeladenen Sopran mit einer leicht schneidenden Stimmfarbe, die zu dem verrückten, unberechenbaren Nerone wirklich exzellent passt.

Standard: Es ist ja fast das ganze Opernpersonal ein wenig gaga: Nero ist labil, Poppea berechnend und machtgeil, Ottavia gefühlskalt, Seneca eitel. Jeder betrügt jeden. Klingt eigentlich wie das Drehbuch zu einer südamerikanischen Telenovela?

Lascarro: (lacht) Ich schaue natürlich fast nie Telenovelas - aber was ist eine Telenovela denn anderes als eine Überzeichnung der eigenen Lebensrealität? Unser Leben ist manches Mal ja auch ein bisschen wie eine Telenovela - in Südamerika vielleicht etwas mehr, im ruhigen Österreich vielleicht etwas weniger.

Standard: In "Poppea" bekriegen einander Liebe, Vernunft und das Schicksal. Hat bei dem Menschen Juanita Lascarro das Gefühl oder die Vernunft die Übermacht?

Lascarro: Weder noch. Manche Entscheidungen, die ich in meinem Leben bisher gefällt habe, waren nicht unbedingt die vernünftigsten - Gott sei Dank, man möchte das Leben ja schließlich auch genießen. Was meinem Beruf anbelangt: Da sind Kontrolle, die Technik und die Analyse natürlich wichtig, aber man darf die eigenen Naivität, seine Angstfreiheit im Schöpferischen, seine Gefühle nie verlieren.

Standard: Wie würden Sie Ihre Jahre in Kolumbien, das Leben, die Atmosphäre dieses Landes beschreiben?

Lascarro: Als unberechenbar, leidenschaftlich und euphorisch. Die Menschen dort sind geprägt durch Leid, Armut und Tod. Seit etwa fünfzig Jahren herrscht Bürgerkrieg, die Mafia ist überall. Dauernd mit so viel Ungewissheit und Unsicherheit konfrontiert zu sein, hat paradoxerweise zur Folge, dass man viel intensiver lebt. Das ist auch ein Gedanke in der Poppea: Lebe den Moment, koste das Leben aus. Es kann so schnell vorbei sein. (Stefan Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 20. 1. 2010)