
Brian Concannon: "Jeder US-Soldat, der nicht absolut notwendig ist, um medizinische und logistische Hilfe zu leisten, sollte Haiti sofort wieder verlassen."
Brian Concannon beobachtet für die US-NGO "Institute for Justice & Democracy in Haiti" seit Jahren das Land. Auch er hat durch das katastrophale Erdbeben Freunde und Bekannte verloren. Im Interview mit derStandard.at analysiert er die politische Lage. Concannon hält dabei die Entsendung von über 10.000 US-Soldaten für überzogen und fordert einen sofortigen Rückzug jener, die nicht direkt in die Erdbebenhilfe involviert sind. Die Fragen stellte Rainer Schüller.
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derStandard.at: Ihre Organisation hat die politische Lage in Haiti immer genau verfolgt. Wie war die Situation vor dem Erdbeben?
Concannon: Die Demokratie in Haiti hatte ein relativ stabiles Niveau erreicht. Wir hatten jedoch die Befürchtung, dass sich die Politik in eine Richtung entwicklen würde, die nicht dem Willen des Volkes entspricht. Es gab Anzeichen, dass von Seiten der regierenden Partei um Rene Préval die für 2010 geplanten Wahlen hätten beinflusst werden sollen.
derStandard.at: War Haiti schon vor dem Erdbeben ein hoffnungsloser "failed state"?
Concannon: Ich mag den Ausdruck "failed state" nicht, weil hier oft nicht auf die Komplexität der Lage eingegangen wird. Er wird auch zu oft für ungenügende internationale Unterstützung verwendet.
derStandard.at: Und nun nach dem katastrophalen Erdbeben: Wie chaotisch ist die Lage?
Concannon: Es ist chaotisch was den Zusammenbruch der Kommunikation und der Infrastruktur vor allem in Port-au-Prince betrifft. Auf der anderen Seite ist es aber nicht so chaotisch, dass man sagen könnte, das es keinen sozialen Frieden mehr auf Haiti gibt. Es wurde mir von Leuten vor Ort berichtet, dass die große Mehrheit sehr friedlich mit der Situation umgeht. Man versucht sich gegenseitig zu helfen, um die nächsten Wochen überleben zu können.
derStandard.at: Ist das politische System noch intakt? Wer ist jetzt an der Macht?
Concannon: Dadurch, dass einige hochrangige Vertreter des Staats durch das Erdbeben umgekommen sind und auch verschiedene Ministerien zerstört wurden, kann die Regierung nicht mehr so funktionieren wie vorher. Das ist umso schlimmer als die Situation davor schon nicht rosig war.
Bei der Frage, wer nun an der Macht ist, spielen sicher die USA eine entscheidende Rolle. Sie kontrollieren Haitis Luftraum und viele andere Bereiche. Auch die UNO spielt natürlich eine Rolle, aber ich glaube, dass im Endeffekt mehr US-Truppen als Blauhelme vor Ort sein werden (Anm.: Am Mittwoch kündigten sowohl die USA als auch die UNO an, ihre Truppen auf je 12.500 Mann zu verstärken).
derStandard.at: Wie lange sollten die US-Truppen auf Haiti bleiben?
Concannon: Sie sollten Haiti so schnell wie möglich wieder verlassen. Die USA sollten besser die Regierung Haitis finanziell unterstützen, damit sie wieder handlungsfähig wird.
derStandard.at: "So schnell wie möglich" heißt?
Concannon: Das heißt, dass jeder US-Soldat, der nicht absolut notwendig ist, um medizinische und logistische Hilfe zu leisten, Haiti sofort verlassen sollte. Mir ist die Notwendigkeit von Zehntausenden Soldaten nicht ersichtlich, die selbst Wasser trinken, das sie den verdurstenden Erdbebenopfern geben könnten. Das Militär sollte, wo das möglich ist, durch Notfallpersonal ersetzt werden.
derStandard.at: Über die Nachrichtenagenturen kamen einige Berichte und Fotos von Plünderungen. Ist Haitis Polizei Herr der Lage?
Concannon: Die lokale Polizei war schon vor dem Erdbeben nicht sehr effektiv und ist es nun viel weniger. Aber: Die Bevölkerung von Haiti ist sehr fähig, selbst für Ordnung zu sorgen. Es gab lange Perioden auf Haiti, in denen man überhaupt keine Polizei hatte. Sie haben also viel Erfahrung darin, gemeinsam gegen zivilen Ungehorsam oder Verbrechen vorzugehen.
Es gab Berichte über Plünderungen. Aber Port-au-Prince ist eine Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern. Dafür ist die Verbrechensrate relativ gering. Ich nehme an, dass man auch in Wien Fotos von Verbrechen machen könnte, wenn über Nacht der Strom ausfallen sollte. Alle Leute vor Ort auf Haiti, mit denen ich bisher gesprochen habe, waren derselben Meinung: Sie brauchen keine Hilfe, was die Sicherheit betrifft, sondern Medikamente, Verbandsmaterial, Wasser und Nahrung. Wenn man jetzt der Herstellung von Sicherheit die oberste Priorität gibt, dann verlangsamt das aber die Hilfe, was dazu führt, dass noch mehr Menschen sterben.
Das Sicherheitsrisiko, das ich im Moment sehe ist, dass Haitianer ihre Geduld verlieren, wenn sie merken, dass es zwar Wasser für sie gibt, das aber aus Sicherheitsgründen nicht verteilt wird. Diese Frustration könnte zu Gewalt führen, was wiederum höhere Sicherheitsmaßnahmen der Helfer nach sich ziehen würde und zu einem Teufelskreislauf führen könnte. Nachdem aber die Hilfe in den letzten Tagen anzulaufen scheint, hoffe ich, dass ich hier falsch liege.
derStandard.at: Denken Sie, dass US-Präsident Obama daran interessiert ist, Haiti langfristig unter US-Kontrolle zu halten?
Concannon: Präsident Obama hat festgehalten, dass die USA nur an einer längerfristigen Erdbebenhilfe für Haiti interessiert sind. Ich nehme ihn beim Wort. Es ist zu früh, um zu beurteilen, ob man jetzt eine längerfristiges militärisches Interesse hat. In der Vergangenheit hatte man das auf alle Fälle: Die US-Marines hatten das Land 20 Jahre lang besetzt und es gab immer wieder Entsendungen von US-Truppen. Zuletzt im Zusammenhang mit dem Staatsstreich im Jahre 2004. Und jetzt sind sie wieder da.
derStandard.at: Was würde den USA ein längerfristiges Engagement auf Haiti bringen?
Concannon: Zunächst will man sicher mithelfen, die Sicherheit und Stabilität Haitis herzustellen. Zudem ist man daran interessiert, den gefürchteten Flüchtlingsstrom aus Haiti einzuschränken. Und schließlich will man von US-Seite natürlich auch deshalb längerfristig die Kontrolle behalten, weil man wirtschaftliche Interessen hat.
derStandard.at: Venezuelas Präsident Chavez hat bereits gepoltert, dass die USA die Katastrophe für eine Besetzung von Haiti nützen würden. Wie sehen Sie das?
Concannon: Er ist ja nicht der einzige, der das glaubt. Auch die französische Regierung hat bereits Anmerkungen in diese Richtung gemacht und es sind sicher auch sehr viele Leute auf Haiti dieser Meinung.
Diese Bedenken sind auch durchaus berechtigt, weil die Entsendung dieser Soldaten auf Kosten der Erste Hilfe-Maßnahmen gemacht wurde. Die Sicherheitslage scheint nicht so prekär zu sein, dass die Entsendung einer so hohen Anzahl an Soldaten notwendig ist.
derStandard.at: Denken Sie, dass die Ex-Kolonialmacht Frankreich eine spezielle Verantwortung hat, um Haiti nun zu helfen?
Concannon: Ja, ganz sicher. Im Rahmen der Unabhängigkeit im Jahr 1825 verlangte Frankreich als Gegenleistung eine Millionen-schwere Entschädigung. Das war illegal, denn Frankreich verlangte dieses Geld unter Androhung einer Invasion. Es gibt dazu noch immer einen Rechtsstreit: 2003 wurde berechnet, dass Frankreich Haiti 21 Milliarden US-Dollar schuldet. Ich würde deshalb sagen, dass Frankreich eine 21-Milliarden-Dollar-Verantwortung trägt.
derStandard.at: Der Präsident von Senegal hat den Bewohnern von Haiti Land angeboten, um "zu den afrikanischen Wurzeln" zurückzukehren. Denken Sie, dass jemand dieses Angebot annehmen wird?
Concannon: Haitianer haben sicher eine sehr enge kulturelle und spirituelle Beziehung zu Afrika. Ob dieses Angebot jemand annehmen wird, kann ich jedoch nicht sagen.
derStandard.at: Was könnte nun konkret von politischer Seite tun, um das Chaos auf Haiti wieder in den Griff zu bekommen?
Concannon: Man muss die Regierung Haitis wieder handlungsfähig machen. Langfristig muss man die Regierung unterstützen, damit sie ihren Bürgern die grundlegenden Dienste wieder bieten kann.
Das Erdbeben war zwar einerseits eine Naturkatastrophe. Andererseits handelt es sich aber auch um eine von Menschenhand gemachte Katastrophe. Die Tatsache, dass so viele Menschen sterben mussten, ist auch auf politisches Versagen im In- und Ausland zurück zu führen. Diese Politik zwang die Bevölkerung in die Städte, wo sie sich keine ordentlichen Häuser leisten konnten und gezwungen waren, in unsicheren Hütten zu leben. Diese falsche Politik muss man ändern, indem man etwa die Agrarpolitik vor Ort verbessert oder sozialpolitische Maßnahmen in den Städten verstärkt. Haitis Regierung muss von der internationalen Gemeinschaft dahingehend unterstützt werden statt sie zu destabilisieren.
derStandard.at: Kann diese Katastrophe für Haiti auch eine Chance sein?
Concannon: Haiti hat immer wieder gezeigt, dass es sich von großen Schocks wieder erholen kann. Dieser ist vermutlich der schlimmste bis jetzt. Ich bin überzeugt, dass Haiti auch diese Katastrophe überstehen wird - mit der richtigen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. (rasch, derStandard.at, 20.1.2009)