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Das Oval Office, seit einem Jahr Obamas Arbeitsplatz.

Foto: AP

Es war ungewöhnlich mild an diesem Dienstag vor genau einem Jahr. Der Schnee, der draußen grau und in mäandernden Hügeln die Ecken des Wiener Wallensteinplatzes besetzt hielt, schmolz vor sich hin. Drinnen, im Frame-Beisl ums Eck, kullerten während der Liveübertragung von Obamas Inauguration so manchem Zuschauer salzige Tränen ins Bier. Da flog er hin, der frischgebackene Ex-Präsident. Mit dem Hubschrauber in Virginias Abendrot. Der Salut des neuen Herren im Weißen Haus markierte den Beginn einer neuen, einer optimistischeren Ära.

Heute, am 20. Jänner 2010, scheint alles anders: Obama habe die Welt bisher enttäuscht, sei zu schwach, zu zögerlich. Er habe seine Versprechen bisher nicht eingelöst, seine Worte zählten nicht, in weiten Teilen Amerikas nicht und in Teheran schon gar nicht. Und jetzt auch noch Massachusetts. Die Niederlage der Demokraten in dem traditionell liberalen Ostküstenstaat bringe das Kernprojekt Obamas, die Gesundheitsreform, in ernsthafte Gefahr, heißt es. Und den Demokraten verheiße der Machtwechsel ebenfalls nichts Gutes für die anstehenden Wahlen am 2. November, wenn 36 der 100 Senatssitze neu vergeben werden.

Dabei ist es für derlei Sirenengeheul zu früh. Obama ist keineswegs ein gescheiterter Präsident. Die verlorene Wahl in Massachusetts war auch kein Referendum über Obamas Performance. Die Niederlage könnte ebenso gut der dringend benötigte Weckruf sein, der die Partei einigt und die Gesundheitsreform endlich auf Schiene bringt. Schließlich verfügt Obamas Partei trotz des in Massachusetts eingebüßten Sitzes über eine beachtliche Mehrheit von 57 Senatoren gegenüber 41 der Republikaner.

Zwar ist die drei-Fünftel-Mehrheit nun dahin und die Republikaner könnten Debatten im Senat durch Endlosreden blockieren oder verzögern. Das größte Hindernis zur Umsetzung der Gesundheitsreform war aber bisher die Spaltung der Demokraten selbst. Angesichts der drohenden Niederlagen im Herbst könnten sich die demokratischen Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern auf ein Kompromisspapier einigen und es dem Präsidenten zum Unterzeichnen weiterleiten. Oder die naturgemäß heikle Frage der Finanzierung der Reform vorerst ausklammern und sie später mittels des so genannten Reconciliation Process durch eine einfache Stimmenmehrheit im Senat verabschieden. Dann, wenn alle anderen Kapitel die beiden Kammern passiert haben.

Beides dürfte den angeschlagenen Demokraten ein Jahr nach dem fulminanten Einzug Barack Obamas ins Weiße Haus Bauchweh verursachen. Die große Depression, in die der Rückschlag in Massachusetts die Demokraten zu reißen droht, könnte sich durch eine erfolgreich verabschiedete Gesundheitsreform aber schlagartig in ein neues Momentum des Erfolgs verwandeln, von dem Barack Obama den Rest seiner ersten Amtszeit zehren kann. 

Sechs von zehn privaten Schuldenbergen in den USA sind Resultat von nicht bezahlbaren medizinischen Behandlungen
. Dass sich, wie der Senatsentwurf vorsieht, 31 Millionen bisher nicht versicherter Amerikaner in Zukunft ärztliche Versorgung leisten können, wäre die Anstrengung wert. Nicht nur, was das Abschneiden der Demokraten bei den anstehenden Wahlen betrifft. (Florian Niederndorfer/derStandard.at, 20.01.2010)