Der Sozialstaat ist wieder im Gerede. Im Vorfeld schwieriger Budgeterstellungen ist das nichts Neues. Ungewöhnlich sind Dimension und Hintergründe des Defizits: Die Hilfspakete für Banken und Wirtschaft haben enorme Löcher in den öffentlichen Haushalten hinterlassen.
Offenbar plant nun der Finanzminister, die Sozialbudgets kräftig zum Stopfen dieser Löcher heranzuziehen. Wie sonst ist zu erklären, dass mittels realitätsferner Sozialleistungsbeispiele (aus einer einschlägigen Studie von Franz Prettenthaler) der Eindruck erweckt wird, der Sozialstaat sei zu großzügig und Arbeit lohne sich deshalb nicht? Wie sonst ist die Verbreitung irreführender Gegenüberstellungen vermeintlicher "Nettozahler" und "Nettoempfänger" zu erklären, die suggerieren, die einen zahlen und die anderen bekommen zu viel?
Zuerst zu den Sozialleistungs-Beispielen in der Prettenthaler-Studie: Es werden dort die in der Steiermark bzw. in der Stadt Graz gezahlten Sozialleistungen an Familien mit Kleinkindern bei unterschiedlichen Arbeitsverdiensten gegenübergestellt. Mit dem Ergebnis, dass die Unterschiede bei den Netto-Gesamteinkommen inclusive Sozialleistungen deutlich geringer sind als bei den Brutto-Arbeitseinkommen. Dieser Befund ist alles andere als überraschend: Sind doch die Landes- und Gemeindeleistungen für Familien mit Kleinkindern gezielt auf einkommensschwache Haushalte ausgerichtet. Dazu kommt, dass die Differenz zwischen brutto und netto logischerweise bei höheren Arbeitseinkommen größer ist - den höheren Sozialbeiträgen stehen auch höhere Pensionsansprüche etc. gegenüber.
Geradezu abenteuerlich mutet es an, wenn aus derartigen Beispielen die generelle Schlussfolgerung gezogen wird, Arbeit lohne sich nicht, weil unser Sozialsystem zu üppig ausstaffiert sei. Allein schon für Familien mit Kleinkindern sind die Beispiele keineswegs repräsentativ. Und wenn die Kinder nur ein, zwei Jahre älter werden, schaut es völlig anders aus. Das Problem ist nicht die Sicherung eines Mindeststandards für Familien mit Kleinkindern, sondern das Fehlen von Betreuungseinrichtungen.
Zur Gegenüberstellung "Geber" und "Nehmer": Hier wird darauf abgestellt, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr in die öffentlichen Systeme einzahlt als er/sie herausbekommt. Völlig ausgeblendet wird dabei, dass jeder Mensch einen Lebenszyklus durchläuft. Auch wer aktuell gut verdient und entsprechend hohe Sozialbeiträge und Lohnsteuern zahlt, war in der Kindheit und Jugend klarerweise "Nettoempfänger" (Familienleistungen, Schul-, Studienkosten etc.) - heutige Hochverdiener nicht selten in viel höherem Maß als andere! Und selbstverständlich fallen Pensionen und Gesundheits- und Pflegeleistungen vor allem im höheren Alter an. Über den Lebenszyklus betrachtet profitieren alle von sozialer Infrastruktur und sozialen Ausgleichsmechanismen.
Der Sozialstaat ist eine der großen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Er hat in der Finanz- und Wirtschaftskrise gerade eine schwere Bewährungsprobe bestanden und trägt wesentlich zur Krisenüberwindung bei. Panikreaktionen wurden vermieden, die Binnennachfrage stabilisiert, was sehr vielen Betrieben ihr Überleben und den dort Beschäftigten ihre Arbeitsplätze gesichert hat. Schwer auszudenken, was geschehen wäre, wenn zum Beispiel die öffentlichen Pensionen - so wie viele börsenabhängige Firmenpensionen - im letzten Jahr um bis zu 20 Prozent und mehr gekürzt worden wären.
Ein starker und dynamischer Sozialstaat ist auch eine unverzichtbare Zukunftsinvestition. Eine weitere Aufsplittung in Arm und Reich wird in Anbetracht der Globalisierung, prekärer Arbeitsformen, Alterung etc. nur vermeidbar sein, wenn der Sozialstaat geschützt und weiterentwickelt wird.
Der Blick auf die skandinavischen Länder belegt, dass Sozialausgaben in erster Linie Produktivkraft und nicht Kostenfaktor sind. Hohe Sozialquoten und nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg gehen Hand in Hand. Vereinbarkeit von Beruf und Familie, berufsbegleitendes Lernen, alternsgerechte Arbeitsplätze und vieles mehr sind dort längst gelebte Realität All das erfordert aber entsprechend dotierte Sozialbudgets. Eine Finanzierung der Krisenkosten durch ein Zusammenstreichen von Sozialbudgets würde nicht nur die Falschen treffen, sondern uns letztlich auch teuer zu stehen kommen! (Josef Wöss, DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2010)