"Berufsmäßiger Neurastheniker" : Der Schriftsteller Peter Altenberg im Porträt von Gustav Jagerspacher

Foto: Wien Museum

... und zeigt den Geburtsort der Moderne 1900 abseits der Klischees.

Wien - Ganz darf Sigmund Freud in einer Ausstellung über Psychiatrie, Wahnsinn und der Kunst im Wien um 1900 natürlich nicht fehlen: Seine aus Originalteilen rekonstruierte Couch, die erstmals in einer Wiener Ausstellung gezeigt wird, ist fraglos eines der Prunkstücke der Schau "Modernity & Madness", die ab 21. Jänner im Wien Museum zu sehen ist.

Im Zentrum der Ausstellung stehen freilich eher andere Dinge und Aspekte, die mitunter ebenso überraschen wie das Freud-Porträt, das die Kuratorinnen Gemma Blackshaw, Leslie Topp und Sabine Wieber neben die legendäre Teppichliege hängen ließen: Das Bildnis Sigmund Freud von Max Oppenheimer aus dem Jahr 1909 zeigt den Vater der Psychoanalyse zwar, wie gewohnt, mit einer Zigarre in den Fingern, aber mit einem Schnurrbart im Gesicht.

Wie die Ausstellung in sechs luftig gestalteten und raffiniert verbundenen Schauräumen eindrucksvoll vor Augen führt, gab es neben der Psychoanalyse in Wien um 1900, der "Geburtsstätte der Moderne" , noch sehr viele andere Berührungspunkte und Schnittstellen zwischen den psychiatrischen Diskursen und der Kunst: etwa in den erstaunlichen Bildern des 1994 wiederentdeckten Psychiatrie-Patienten Josef Karl Rädlers, Karl Hennings Porträtbüsten von Menschen mit Mikrozephalie.

Den architektonisch eindrucksvollsten Niederschlag fanden diese vielfältigen Querbeziehungen in der "Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke am Steinhof" , der auch in der Ausstellung der größte Raum zugemessen wurde.

Fortschrittliche Psychiatrie

Das 1907 eröffnete Krankenhaus machte Wien in Sachen Psychiatrie mit einem Schlag zur fortschrittlichsten Stadt Europas - nicht zuletzt dank des einzigartigen Zusammenwirkens von Medizin und Architektur. Die sechzig Pavillons sollten in ihrer regelmäßigen Anordnung inmitten der Natur zur Heilung beitragen, visuell gleichsam gekrönt von Otto Wagners Kirche am Steinhof.

Madness & Modernity, die nach vierjähriger Forschungsarbeit der Kuratorinnen im Frühjahr 2009 in London mit großem Erfolg gezeigt wurde, präsentiert nicht nur die Originalentwürfe Wagners sowie Modelle der Gesamtanlage und der Kirche. Viel Platz wird auch den vergessenen Werbeplakaten gegeben, mit denen damals international um Patienten geworben wurde.

Einer der prominenten Patienten am Steinhof war der eng mit Karl Kraus befreundete Schriftsteller Ludwig von Janikowski, der sich von Oskar Kokoschka ebendort porträtieren ließ. Dieses Bild aus einer US-amerikanischen Privatsammlung ist ein weiterer Coup der Schau: Der "gezeichnete" Gesichtsausdruck des Porträtierten, die heftigen Kratzspuren im Malgrund und die ungewöhnliche Farbgebung sorgten damals für einen Skandal.

Bisher kaum bekannte Querbeziehungen zwischen der Psychiatrie und der Kunst um 1900 werden auch im Fall von Egon Schiele hergestellt. Allem Anschein nach war der mit den Abbildungen körperlich abnormer Körper aus der Pariser Nervenkrankenhaus Salpêtrière vertraut. Die Gegenüberstellung der Fotos aus Paris mit Schieles Selbstporträts, in denen sich der Künstler selbst als "krankhaft" darzustellen sucht, scheint diese These jedenfalls zu bestätigen.

Dass Nervenleiden in Wien um 1900 in Künstlerkreisen zum Teil auch Modeerscheinung waren, legen in der Ausstellung unter anderem die Porträts und Karikaturen von Peter Altenberg nahe, der unter anderem wegen seines Alkoholismus und seiner Pädophilie am Steinhof in Behandlung war. Der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler war indes skeptisch, ob Altenbergs Leiden alle ganz authentisch waren: Schnitzler meinte, dass sich sein Freund eher wie ein "berufsmäßiger Neurastheniker" gebärde. (Klaus Taschwer / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21.1.2010)