Nicht zum ersten Mal erlebt die europäische Öffentlichkeit den Auftritt der Heuchler in Brüssel. Gerade jene, die - wie ich - die grenzüberschreitende politische und wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit in der EU stets als eine Erfolgsgeschichte betrachtet haben, müssen ohne Rücksicht auf die politische oder nationale Farbe die wiederholten Verstöße gegen den europäischen Gedanken verurteilen. Zu den eklatanten Rückschlägen gehörten immer wieder die Korruptionsaffären, die man oft viel zu spät entdeckt hat. Es genügt, an die Affäre um die frühere französische Ministerpräsidentin Edith Cresson zu erinnern, die als EU-Wissenschaftskommissarin (1995-1998) ihren Zahnarzt als hoch bezahlten EU-Berater beschäftigt und schließlich durch den Skandal den Rücktritt der gesamten Kommission herbeigeführt hatte.

Mit der sprunghaften und viel zu schnellen Erweiterung der EU importiert man auch enorme Netzwerke der Vetternwirtschaft und der Korruption, vor allem aus Bulgarien und Rumänien. Der Fall der zurückgetretenen bulgarischen Kandidatin Rumiana Jelewa liefert eindrucksvolle Beispiele für die Heuchelei auf allen Seiten. Die amtierende Außenministerin des Balkanstaates bewies nicht nur Ignoranz über ihr künftiges Fachgebiet, sondern konnte auch die Vorwürfe bezüglich ihrer Vermögens- und Interessenverhältnisse keineswegs entkräften.

Zugleich machte Kommissionspräsident Barroso wieder einmal klar, dass ihm Durchschlagskraft und Autorität nach wie vor fehlen. Wie vor fünf Jahren in einem ähnlichen Fall, hat er zu spät und zu zaghaft reagiert. Es könnte sein, dass er auch bei der viel kritisierten Neuaufteilung der Zuständigkeiten bei Schlüsselressorts scheitert.

Der Fall Jelewa ist freilich auch eine schwere Niederlage für den bulgarischen Premier Borissow (übrigens ehemaliger Leibwächter des gestürzten kommunistischen Diktators Todor Schiwkow), der eine "Verleumdungskampagne der Linken" für die Niederlage ihrer auch wegen der angeblichen Geheimdienstkontakte ihres Mannes umstrittenen Kandidatin verantwortlich machte. Dass nun aber die bei den Wahlen geschlagenen Sozialisten in Sofia den Mund so voll nehmen, wirkt auch lächerlich, zumal der Staatspräsident wie auch Ex-Premier Stanijew aus ihren Reihen als informelle Mitarbeiter bzw. Agenten des KP-Geheimdienstes beschuldigt werden.

Dass die EU-Abgeordneten die kritische Begutachtung der Kandidaten für die Kommission ernst nehmen, ist zweifellos eine Folge des Lissabon-Vertrags. In diesem Fall waren es sozialdemokratische, grüne und liberale Vertreter, die die Initiative ergriffen hatten. Weniger erfreulich ist freilich, dass die Konservativen in Brüssel Jelewa nicht nur auf Gedeih und Verderb verteidigten, sondern auch versuchten, als Retourkutsche slowakische und griechische Kandidaten unter Druck zu setzen, nur weil diese von sozialistischen Regierungen nominiert wurden. Die Praxis der"Revanchefouls" und "parteipolitischer Punzierung als Ausgangspunkt von Beurteilungen"(zu Recht verurteilt vom ÖVP-Europabgeordneten Othmar Karas) gehört freilich auch zur Heuchelei in Brüssel. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2010)