Port-au-Prince - Zwei weitere Nachbeben haben am Donnerstag das Katastrophengebiet in Haiti erschüttert und die notleidenden Menschen abermals in Panik versetzt. Einer der Erdstöße erreichte nach Angaben der US-Erdbebenwarte eine Stärke von 4,9. Berichte über neue Schäden oder Verletzte gab es nicht. Seit dem verheerenden Beben vom 12. Jänner, dem vermutlich 200.000 Menschen zum Opfer fielen, ist die Region um die Hauptstadt Port-au-Prince von mindestens 50 Nachbeben erschüttert worden. Die Arbeit der Bergungsmannschaften wurde dadurch immer wieder unterbrochen.
Mann erschossen
Die Polizei von Haiti hat in Port-au-Prince einen Mann erschossen, der einen Sack Reis unter dem Arm hatte. Er sei vermutlich für einen Plünderer gehalten worden, berichtete der US-Nachrichtensender CNN am Freitag aus dem verwüsteten Karibikstaat.
Augenzeugen zufolge waren am Donnerstag fünf Säcke mit Reis von einem Laster gefallen. Passanten hätten diese aufgesammelt. Auf ihrem Weg seien sie dann von Polizisten mit den Hilfsgütern gesehen worden. Die Beamten hätten daraufhin das Feuer eröffnet und einen der Männer, einen 20-jährigen Tischler, von hinten tödlich getroffen. Zwei weitere wurden verwundet.
Ein Polizeibeamter betonte, es gebe keinen Befehl, Plünderer zu erschießen. Der Vorfall soll untersucht werden. Die Regierung des Landes hat sich dem Bericht zufolge offiziell noch nicht geäußert.
UN bezahlen Haitianer für Aufräumarbeiten
Die Menschen im Erdbebengebiet von Haiti sollen indessen für das Aufräumen bezahlt werden. "Wir haben in einem ersten Schritt 400 Haitianer angestellt, zum Ende der Woche sollen es 700 sein", erklärte die Chefin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), Helen Clark, am Mittwoch (Ortszeit) in New York.
Ziel des "Cash for Work"-Programms ("Bares für Arbeit") sei es 220.000 Menschen zu beschäftigen. Indirekt werde dann einer Million Menschen geholfen. Die Helfer sollen vor allem Trümmer wegräumen, Straßen ausbessern und die Infrastruktur reparieren. Dafür würden sie fünf Dollar (etwa 3,50 Euro) am Tag bekommen.
"Müssen die Menschen schnell wieder beschäftigen"
"Wir müssen die Menschen schnell wieder beschäftigen und zugleich die Schäden des Bebens beseitigen. Deshalb haben wir für das Programm 35,6 Millionen Dollar angefordert", sagte Clark. "Aber der Wiederaufbau eines so großen Gebietes wird Zeit kosten. Das ist keine kurz- und auch keine mittelfristige Aufgabe."
"Die Haitianer sollten die Hauptakteure beim Aufbau sein", sagte Eric Overvest, UNDP-Chef in Haiti. "Wenn wir für Beschäftigung sorgen, normalisiert das das Leben der Menschen rascher, als ein Leben von Hilfsgütern. Es ist wichtig, ein Einkommen zu haben und Nahrung kaufen zu können." Das sorge für Selbstbewusstsein und Würde.
Die UN haben schon Erfahrung mit einem ähnlichen Programm in Haiti - wenn auch im viel kleineren Maßstab. Als Wirbelstürme vor knapp zwei Jahren 800 Menschen in dem Land töteten und 165.000 Familien obdachlos zurückließen, hatte das UNDP bereits ein "Cash for Work"-Programm gestartet.
Ban Ki Moon hält Anfangsprobleme für überwunden
Bei der Hilfe für die Erdbebenopfer in Haiti hält UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon die Anfangsprobleme für überwunden. "Ich weiß, dass es in den ersten Tagen gewisse Verzögerungen gab. Aber mittlerweile haben wir ein sehr effektives System aufgebaut, um Engpässe zu umgehen", sagte Ban am Mittwochabend (Ortszeit) in New York nach einem Gottesdienst für die Zehntausenden Toten in Haiti.
Ban berichtete von Fortschritten bei der Verteilung der Hilfsgüter. "Wir haben an Land fünf Transport-Routen aufgebaut und die Flughafenkapazität erhöht. Wo und was auch immer an Hilfsgütern ankommt, hat jetzt absolute Priorität." Mittlerweile stehe den Helfern auch der Seeweg offen. "Die Hafenanlagen wurden instand gesetzt, vor allem mit großer Unterstützung der USA. Ich habe mit Präsident Barack Obama und Außenministerin Hillary Clinton gesprochen, und sie wollen uns zusätzliche Kapazitäten am Hafen zur Verfügung stellen, womit wir noch mehr Probleme überwinden können."
Vereinzelt noch Lebende gefunden
Rettungskräfte fanden in den Trümmern vereinzelt noch immer Lebende. In Port-au-Prince zogen Nachbarn ein elfjähriges Mädchen aus einem zerstörten Haus. "Es ist ein wahres Wunder, sie kommt Stück für Stück zurück ins Leben", sagte der Arzt Dominique Jan. "Ihre Nieren funktionieren, sie bekommt Salzwasser gegen die Dehydrierung und langsam wieder ein wenig zu essen", sagte er.
In einem anderen Stadtteil wurde ein Fünfjähriger aus den Trümmern eines Hauses gerettet. Spanische Helfer konnten eine 14-Jährige lebend bergen. Erst am Dienstag hatten Retter zwei Frauen und ein Baby lebend in Port-au-Prince gefunden. UNO-Nothilfekoordinator John Holmes zufolge sind seit dem Beben am 12. Jänner mit der Stärke 7,0 insgesamt mehr als 120 Überlebende geborgen worden.
Weitere US-Soldaten sollen entsendet werden
Die USA wollen laut US-Sender CNN weitere 4.000 US-Soldaten entsenden. Dies würde die Zahl der amerikanischen Soldaten, die in Haiti oder auf Schiffen vor der Küste sind, auf mehr als 15.000 erhöhen. Haitis Ministerpräsident Jean-Max Bellerive und Staatschef Rene Preval traten dem Eindruck entgegen, Haiti stehe unter Fremdherrschaft. Die US-Truppen seien "auf unsere Bitte" im Land und "nur, um uns in humanitären Dingen und Sicherheitsangelegenheiten zu helfen", sagte Bellerive dem Rundfunksender RTL. Kritik an der Entsendung von US-Soldaten war zuvor aus Venezuela und Bolivien gekommen.
Der durch das Erdbeben schwer beschädigte Hafen in Port-au-Prince soll nach Angaben der US-Armee am Freitag teilweise geöffnet werden. Dann könne vielleicht wieder die Hälfte seiner ursprünglichen Kapazität genutzt werden. Wenn wieder Schiffe mit Hilfslieferungen anlegen könnten, werde der völlig überfüllte Flughafen entlastet, erklärte die Armee.
Insgesamt wurden nach Angaben der EU-Kommission bisher etwa 80.000 Erdbebenopfer beerdigt. Die Zahl der Obdachlosen liege bei zwei Millionen. Rund 1.000 EU-Bürger in Haiti würden vermisst. Eine spanische EU-Diplomatin wurde unterdessen tot geborgen. Um ihren Tod hatte es am Wochenende Verwirrung gegeben, nachdem eine Leiche irrtümlich als die Spanierin identifiziert worden war. (APA)