José Manuel Barroso nahm sich kein Blatt vor den Mund, als er am Donnerstag in Madrid das "Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" eröffnete. Die Armutszahlen der Union seien "eine Schande", erklärte der EU-Kommissionspräsident. Jeder im Saal wusste, wovon der portugiesische Konservative sprach. Der EU-Kommissar für Beschäftigungspolitik, Soziales und Gleichstellung, der Tscheche Vladimír Spidla, hatte die Zahlen bereits im Vorfeld bekanntgegeben.

Jeder sechste Bürger ist arm 

Demnach lebt jeder sechste Europäer unter der Armutsgrenze, also mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens im jeweiligen Land. 80 Millionen EU-Bürger wissen nicht, wie sie bis Monatsende durchkommen sollen. Am meisten betroffen seien "ältere Menschen, Behinderte, Arbeitslose und Frauen", erklärte der Gastgeber, Spaniens Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero, dessen Land derzeit die EU-Präsidentschaft innehat.

Durch die Krise, die noch einige Zeit dauern werde, hätten acht Millionen Europäer ihre Arbeit verloren. Zapatero prophezeite schwierige Zeiten, da "2025 jeder dritte EU-Bürger älter als 65 sein" werde.

Wie die EU damit umgehen müsse, diese Antwort blieb Starredner Felipe González schuldig. Der Sozialist, der Spanien vor 25 Jahren in die EU führte, sitzt heute dem so genannten "Rat der Weisen" vor. González lobte die EU für das beste Sozialsystem weltweit, las allerdings den 27 Mitgliedern auch die Leviten. Anders als in den frühen Jahren "als es eine einheitliche Industriepolitik gab", hätten während der Krise jeder seine eigene Politik verfolgt. Ohne eine "Wirtschaft, die Wert schöpft, ist eine Politik der sozialen Kohäsion nicht möglich".

Wer am Donnerstag auf konkrete Pläne zur Armutsbekämpfung hoffte, wurde enttäuscht. Nur sieben Mitgliedsländer waren überhaupt mit einem Minister vertreten. Der Rest delegierte das Thema an Staatssekretäre. Sie debattierten mit den Anwesenden Vertretern der Zivilgesellschaft brav über das, was ihnen Barroso vorgegeben hatte: "Das Jahr gegen die Armut soll als Katalysator dienen, um die Sensibilität gegenüber dem Thema zu erhöhen und eine Gesellschaft der Eingrenzung anregen." Das Europäische Armutsjahr mir Künstlerinitiativen, zwei "Sensibilisierungswochen", einem Journalistenpreis und dem Abschlussgipfel im Dezember in Brüssel wird die EU 17 Millionen Euro kosten. (Reiner Wandler aus Madrid, DER STANDARD - Printausgabe, 22. Jänner 2010)