Maximilian Ledochowski (53) ist Ernährungsmediziner an der Med-Uni Innsbruck.

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STANDARD: Nehmen Nahrungsmittelunverträglichkeiten wirklich zu?

Ledochowski: Ja, und das hat zivilisatorische Gründe. Ein Beispiel: In der DDR gab es bis zum Mauerfall kaum Allergien, heute schon, und die Ursache ist sicher nicht in der Hygiene, sondern in den veränderten Ernährungsgewohnheiten zu suchen.

STANDARD: Welche Ursachen sehen Sie für Unverträglichkeiten?

Ledochowski: Nahrung, die von Lebensmittelkonzernen global vermarktet wird. Die Industrie versucht, in einer satten Welt Produkte mit irgendeinem vermeintlichen Mehrwert zu vermarkten. Auch die Ernährungsberater tragen einen Teil bei, indem sie allgemein gültige Ernährungsregeln aufstellen. Das ist so, als ob man Menschen zu einer gemeinsamen Schuhgröße raten würde. Und es hat auch politische Gründe.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Ledochowski: Was wir essen, ist auch die Folge politischer Entwicklungen. Ein Beispiel: Mais- sirup. Er wurde erfunden, als die USA ein Handelsembargo über Kuba, den wichtigsten Zuckerlieferanten, verhängten. Maissirup gab es plötzlich im Überfluss. Früher aß man durchschnittlich fünf Gramm Fruchtzucker, heute sind es 20 Gramm pro Tag. Ähnliches ist mit Weizen passiert: Der Preis berechnet sich nach dem Eiweißgehalt, dem Gluten, und deshalb züchtete man besonders glutenreiche Sorten. Heute beobachten wir vermehrt das glutensensitive Reizdarmsyndrom. Auch die Gluten-Unverträglichkeit Zöliakie ist von 0,1 auf zwei Prozent gestiegen

STANDARD: Wie behandeln Sie Menschen, die zu Ihnen kommen?

Ledochowski: Es gibt keine generellen Empfehlung. Was einem Menschen guttut und was nicht, ist Detektivarbeit. Jeder, der Verdauungsprobleme hat, braucht eine eigene Therapie. Es geht darum, das gestörte ökologische Gleichgewicht im Darm wieder herzustellen. Viele, die glauben, sie haben eine Unverträglichkeit, haben eine Malabsorption (siehe Wissen). Die Symptome verschwinden, wenn auf bestimmte Lebensmittel verzichtet wird. Die Darmflora regeneriert. Manchmal genügt eine Ernährungsumstellung, manchmal hilft nur eine Antibiotika-Kur.

STANDARD: Spüren die Menschen denn nicht, was Ihnen guttut?

Ledochowski: Nein, weil der wichtigste Regulator, der Geschmackssinn, durch die viele süße Nahrung, die wir essen, umprogrammiert wurde. Die großen globalen Nahrungsmittelkonzerne haben den Geschmackssinn manipuliert und sind dabei, weitere Kontrollmechanismen auszuschalten.

STANDARD: Warum gibt es keine Studien dazu?

Ledochowski: Ernährung lässt sich nicht evidenzbasiert erfassen. Das ist schlecht und gut. Denn Studien nutzen vorwiegend der Industrie. Aber natürlich könnte man ernährungsbedingte Zusammenhänge untersuchen, doch das wird trotz steigender Diabetes- oder Adipositaszahlen nicht ausreichend gemacht. Es gibt keine geschlossene Informationskette zwischen Ärzten, Ernährungsberatern, Lebensmittelindustrie und Patienten. Ernährung kann auch nicht global betrachtet werden, sondern hängt davon ab, in welcher Klimazone Menschen leben, was traditionell dort das Nahrungsangebot war und ist, denn die regionale Ernährungsweise hat sich der jeweiligen Genetik angepasst.

STANDARD: Haben Sie trotzdem eine einfache Richtlinie?

Ledochowski: Essen, was die eigene Großmutter gekannt hat, ist eine gute Orientierungshilfe, also Saisonales, Selbstgekochtes. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 25.01.2010)