Rüdiger Ditz ist seit Mai 2008 Chefredakteur von "Spiegel Online".

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"Spiegel Online" zählt mit 100 Journalisten und über 112 Millionen Visits pro Monat (Jänner 2010) zu den größten Online-Portalen im deutschsprachigen Raum. Chefredakteur Rüdiger Ditz erzählt im derStandard.at-Interview vom Redaktionsalltag, wie die Print-Online-Kooperation funktioniert, was er sich unter Qualitätsjournalismus vorstellt und warum auch der "Spiegel" über Paid Content sinniert.

derStandard.at: Wie sieht der Redaktionsalltag bei "Spiegel Online" aus?

Ditz: Die Redaktion ist üblicherweise von 6.00 Uhr morgens bis 0.30 Uhr besetzt. Und das jeden Tag, egal ob Heilig Abend oder Ostern ist. Wenn wir wissen, dass nachts eine Nachrichtenlage zu erwarten ist, arbeiten wir natürlich durch. Im Notfall wecken uns unsere Korrespondenten in den USA. Bislang war das aber noch nicht nötig.

derStandard.at: Zum Korrespondentennetz: Wie viele arbeiten exklusiv für "Spiegel Online"?

Ditz: Für "Spiegel Online" arbeiten exklusiv zwei Kollegen in den USA, einer in London, einer in Islamabad und eine Kollegin in Beirut. Darüber hinaus gibt es natürlich noch das große Korrespondentennetzwerk der Print-Kollegen, mit denen wir eng zusammenarbeiten.

derStandard.at: Wie funktioniert die Print-Online-Kooperation? Machen Print-Kollegen auch exklusiv etwas für Online?

Ditz: Wir tauschen uns auf vielen Ebenen sehr intensiv aus. Viele Print-Kollegen schreiben exklusive Stücke für uns. Das hängt natürlich auch vom Wochentag ab. Denn gegen Ende der Woche fokussiert sich beim Heft alles auf den Redaktionsschluss und die nächste Ausgabe. Aber auch in die andere Richtung funktioniert der Austausch. Wenn Online-Kollegen exklusive Informationen haben, beraten wir, ob sie für den gedruckten "Spiegel" nutzbar sind. Unser Chefreporter hat zuletzt gemeinsam mit Print-Kollegen in Afghanistan recherchiert, um eine Geschichte für das Heft zu schreiben.

derStandard.at: Die Kooperation wird immer mehr forciert?

Ditz: Ja, denn sie muss sich entwickeln. Die Arbeitsweisen bei einem Wochenmagazin und einer Internetseite sind sehr unterschiedlich. Diese Abläufe müssen wir koordinieren und Verständnis dafür schaffen. Das funktioniert aber schon in vielerlei Hinsicht hervorragend.

derStandard.at: Wie viele Mitarbeiter hat der Online- im Vergleich zum Printbereich?

Ditz: Für "Spiegel Online" arbeiten momentan circa 100 Redakteure und 20 bis 30 Kollegen im Backoffice. Der "Spiegel" hat etwa 250 Redakteure.

derStandard.at: Wie ist es in Deutschland um die Qualität im Online-Journalismus bestellt?

Ditz: Es gibt aus meiner Sicht erhebliche Unterschiede. Wir haben das Glück, eine große Redaktion zu haben. Der Großteil der Kollegen ist mit Recherchen beschäftigt und kann sich dafür auch Zeit lassen. Eine kleine Redaktion, die auch minutenaktuell arbeitet, ist sehr auf die Nachrichtenagenturen angewiesen. Dem müssen wir uns nicht mehr in diesem Ausmaß stellen, wie zu unseren Anfangszeiten. Die Herausforderung im Online-Journalismus ist immer, schnell UND akkurat zu berichten.

derStandard.at: Die Zeit ist also der wichtigste Faktor für hochwertigen Journalismus?

Ditz: Unbedingt. Guter Journalismus ist nur dann möglich, wenn man Zeit und die Mittel für Recherche und Umsetzung in Text, Wort oder Bild hat. Da besteht für Onlinemedien ein immanentes Problem: Wenn es beispielsweise eine Eilmeldung gibt, muss man zuerst einmal einschätzen, welchen Wert sie hat. Genauso wie bei Nachrichtensendern, Radiostationen und Agenturen muss das in Sekundenschnelle passieren. Wenn man dagegen erst zehn Stunden später Redaktionsschluss hat, kann man das Thema in aller Ruhe recherchieren. Keinen Redaktionsschluss zu haben, setzt eine Redaktion natürlich fortlaufend unter Druck.

derStandard.at: Die Reputation von Online- ist nicht gleich wie jene von Print-Journalisten, was sich etwa in der Verdienstschere widerspiegelt. Wie sind die Gehaltsunterschiede beim "Spiegel"?

Ditz: Es gibt hier natürlich Unterschiede, was beim "Spiegel" zum Beispiel auch damit zu tun hat, dass es Print-Kollegen gibt, die schon sehr lange dabei sind. Wir haben eine verhältnismäßig junge Redaktion, aber auch bei uns kann man gutes Geld verdienen.

derStandard.at: Wird nach Journalistenkollektivvetrag bezahlt?

Ditz: Wir sind nicht an einen Mantelvertrag gebunden, orientieren uns aber bei der Bezahlung an den deutschen Tageszeitungen.

derStandard.at: Betrachten viele Redakteure "Spiegel Online" als Sprungbrett in Richtung Print?

Ditz: Ich kann nicht in die Köpfe meiner Mitarbeiter schauen, aber ich habe den Eindruck, dass viele es sehr schätzen, für "Spiegel Online" zu arbeiten. Natürlich gilt es in Deutschland nach wie vor wie ein Adelsschlag, für den Print-"Spiegel" zu arbeiten.

derStandard.at: "Spiegel Online" schreibt seit 2005 schwarze Zahlen. Wie fällt die Bilanz für das Krisenjahr 2009 aus?

Ditz: Es war ein schwieriges Jahr. Nicht so sehr publizistisch, da wir permanent unsere Reichweite steigern können. Die Werbeerlöse sind auch bei uns im Vergleich zu den Vorjahren gesunken. Wir hoffen, dass 2010 wieder besser wird.

derStandard.at: Wenn so ein reichweitenstarkes Portal wie "Spiegel Online" mit rund 110 Millionen Visits pro Monat mit der Werbung zu kämpfen hat, wie sollen sich dann kleinere Seiten refinanzieren?

Ditz: Wir müssen hier in längeren Zeiträumen denken. Das Internet ist ein sehr junges Medium, und laufend gibt es redaktionelle und technische Innovationen; auch in Bezug auf die Werbemöglichkeiten. Wenn wir uns mit der Entwicklung der Printmedien vergleichen, dann sind wir erst kurz nach der Erfindung des Buchdrucks. Es wird neue Business-Modelle geben, die mehr als nur ein, zwei Portalen an der Spitze zu Gewinnen verhelfen können.

derStandard.at: Weil der Werbekuchen zu gering ist, prescht der Axel Springer-Verlag mit Paid-Content-Modellen fürs Internet vor. Wie sieht da die Entwicklung beim "Spiegel" aus?

Ditz: Natürlich denken auch wir, wie die gesamte Branche, darüber nach. Wir schauen mit großem Interesse, was die Kollegen von Springer hier auf die Beine stellen und finden diese Initiative sehr mutig.

derStandard.at: Dass es hier von Anfang an weitere Mitstreiter gibt, ist utopisch?

Ditz: Jeder Anbieter muss sein eigenes Modell finden. Alle arbeiten daran und irgendwann wird einer eine gute Idee haben. Das ist so ähnlich wie bei Apple und iTunes. Es gab schon vorher genügend kostenlose Musikplattformen, aber plötzlich kommt Apple mit einer durchschlagenden Idee, die erfolgreich funktioniert.

derStandard.at: "Abwarten" heißt also die Devise beim "Spiegel"?

Ditz: Wir beraten sorgfältig und ohne Druck darüber, welches Modell zu unserem journalistischen Anspruch und zu unserer Marke passt.

derStandard.at: Wie kann so ein Modell konkret aussehen? Ein Abo-Modell oder zahlen für jeden Click?

Ditz: Ein konkretes Modell können wir im Moment noch nicht beschreiben.

derStandard.at: Qualität versus Boulevard: "Spiegel Online" liefert sich in Deutschland einen knappen Kampf mit Bild.de um das reichweitenstärkste Nachrichtenportal. Stimmt Sie das traurig oder froh?

Ditz: Wir fischen in einem völlig anderen Gewässer als Bild.de. Die Unterschiede sind ähnlich groß wie zwischen der gedruckten "Bild" und dem gedruckten "Spiegel", und zwar in allen Bereichen: Leserschaft, Themen und Aufbereitung.

derStandard.at: Ist es mehr eine Prestigesache, die Nummer eins zu sein?

Ditz: Wer ist nicht gern die Nummer eins? Konkurrenz belebt das Geschäft und natürlich spornt es uns an, wenn uns Bild.de etwa bei den Visits überholt. Dieses Rennen ist aber noch nicht entschieden.

derStandard.at: Bei den Applikationen fürs iPhone könnte Springer auch ein Vorbild für den "Spiegel" sein. Bild.de hat im ersten Monat die 100.000er Grenze geknackt. Was plant der "Spiegel"?

Ditz: Auch wir planen eigene Applikationen. Sie können in Kürze mit uns rechnen. (Oliver Mark, derStandard.at)