Matthew Hoh, mittlerweile wieder in Washington.

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Er sei kein Hippie und auch kein Pazifist, sagt Matthew Hoh, 36. Schließlich hat er vier Jahre lang als Marine im Irak gekämpft. Und auch die Invasion in Afghanistan 2001 sei richtig gewesen. Doch seit er als Zivilbeamter des State Department im Südosten Afghanistans anheuerte, habe er den Glauben an die Sinnhaftigkeit des Krieges am Hindukusch verloren. Im Oktober 2009 trat er mit einem aufsehenerregenden und vielzitierten Brief von seinem Posten zurück. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt Hoh, mittlerweile wieder in Washington DC, von seinen Beweggründen.

derStandard.at: Sie haben gerade einmal fünf Monate in Afghanistan verbracht, Ihr Vertrag wäre im März ausgelaufen. Warum glauben Sie besser zu wissen was die USA in Afghanistan tun und lassen sollen, als Leute, die sich seit Jahren damit beschäftigen?

Matthew Hoh: Ich sage ja nicht dass ich es besser weiß. Aber viele Menschen stimmen mit mir überein, was die wahren Gründe des Konflikts in Afghanistan betrifft und welche Lösungen es dafür gibt. Zum Beispiel Ahmed Rashid, ein prominenter pakistanischer Journalist in seinem Buch "Descent Into Chaos". Auch im US-Außenministerium und im Militär gibt es Leute die so denken wie ich. Trotzdem hält der Präsident – aus innenpolitischen Gründen und weil es die Öffentlichkeit von ihm verlangt – an einer militärischen Lösung fest.

Auch die Armee will diesen Krieg nicht verlieren, sondern militärisch gewinnen. Dieser Krieg ist militärisch aber nicht zu gewinnen, weil er schon seit 30 oder 35 Jahren andauert und es politische Lösungen braucht. Die von uns installierte afghanische Regierung schließt ein Drittel der Bevölkerung von vornherein von der Mitsprache aus, nämlich die ländlichen Paschtunen im Süden und Osten. Solange man kein System findet, das diese Menschen an die Regierung und an ihren Teil der Ressourcen bindet, werden sie Bomben werfen.

derStandard.at: Der Einsatz von militärischer Gewalt zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus war einer der Schlüsselpunkte der Bush-Doktrin. Sie haben vier Jahre im Irak gedient und sind nun, nicht einmal ein Jahr nach Beginn der Ära Obama, öffentlich zurückgetreten. Warum sind Sie überhaupt nach Afghanistan gegangen?

Matthew Hoh: Mein Rücktritt hatte nichts damit zu tun, wer im Oval Office sitzt. Er war Ergebnis eines Prozesses, der acht Jahre lang gedauert hat. Ich dachte, ich könnte in Afghanistan zur Verbesserung der Lage beitragen und wollte einerseits meiner Regierung als Zivilbeamter dienen und anderseits auch Erfahrung in Afghanistan sammeln.

derStandard.at: In Ihrem Rücktrittsschreiben argumentieren Sie Ihren Unmut damit, dass die USA in einem internen Bürgerkrieg Partei ergriffen hätten. Wie hätte man denn sonst in den Krieg ziehen sollen, wenn nicht aufseiten einer Partei?

Matthew Hoh: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat der Westen klug reagiert, die Invasion in Afghanistan war der richtige Schritt. Nur haben wir es seither nicht geschafft, den Konflikt richtig einzuschätzen. Wir haben die Kultur, die Völker und die Geschichte des Landes, das wir besetzen, nicht verstanden und so in einen Bürgerkrieg eingegriffen, ohne die wichtigsten Akteure zu kennen. Nachdem wir das Taliban-Regime durch eine Regierung der Nordallianz ersetzt haben, haben wir acht Jahre lang nichts gemacht, um die eigentlichen Gründe des Bürgerkriegs zu lösen.

Außerdem: was bringt der Krieg unseren Nationen eigentlich? Warum schicken wir unsere Kinder, Ehemänner und Väter in einen Kampf, der ein Bürgerkrieg ist und nichts mit Al Kaida zu tun hat? Wir sollten Al Kaida bekämpfen, ihre Strukturen und ihre Anziehungskraft zerstören. In einen Bürgerkrieg einzugreifen, der mit dem Westen nichts zu tun hat, ist irrsinnig.

derStandard.at: Schon einige Wochen vor Ihren Rücktritt hat Peter Galbraith, Vize-Sondergesandter der UN in Kabul, seinen Job quittiert. Im derStandard.at-Interview sagte er, der dramatische Wahlbetrug Präsident Hamid Karzais habe ihn dazu veranlasst. Wie lange können die USA Karzai noch unterstützen, ohne vollends ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen?

Matthew Hoh: In meinen Augen haben die USA ihre Glaubwürdigkeit längst verspielt, indem sie Präsident Karzai unterstützen. Junge Amerikaner und Europäer für ein korruptes und illegitimes Regime sterben zu sehen, hat auch bei mir zu großer Frustration geführt. Die Karzai-Regierung ist eine Kleptokratie, die nur ihrem eigenen persönlichen Nutzen dient und das afghanische Volk nicht vertritt. In zehn oder fünfzehn Jahren werden wir zurückblicken und uns fragen, warum wir unsere jungen Menschen dort haben sterben lassen.

derStandard.at: In einem Kommentar für das britische Magazin New Statesman zeichnet Außenminister David Milliband ein düsteres Bild: die Karzai-Regierung laufe Gefahr, von den Taliban wegen ihrer Korruption "outgoverned" zu werden. Was kann der Westen tun, um dieser Gefahr zu begegnen?

Matthew Hoh: Wenn man in die ländlichen Gebiete des Ostens und den Südens fährt, erkennt man schnell, dass die Kabuler Regierung, die vor allem aus städtischen Paschtunen wie Hamid Karzai, Usbeken und Tadschiken besteht, als Besatzungsregime betrachtet wird. Es ist so ähnlich wie im amerikanischen Bürgerkrieg, als die Carpetbagger aus dem Norden in den besiegten Süden kamen, um sich an Macht und Ressourcen zu bereichern. Auch in der afghanischen Armee sind der Süden und der Osten des Landes kaum vertreten. Deshalb wird auch die afghanische Armee als Besatzungsmacht gesehen.

Die einzige Lösung ist in meinen Augen, die Macht der Zentralregierung einzuschränken und den Regionen so etwas wie Autonomie zu geben. Am Ende des Tages geht es auch im die Ressourcen des Landes, zu denen derzeit nur wenige Gruppen Zugang haben. Und um endlich wirklich alle Gruppen der Bevölkerung einzuschließen, wäre eine Loya Jirga ein guter Weg, weil so Probleme in Afghanistan traditionell angegangen werden.

derStandard.at: Sollen die Taliban also wieder in die Regierung kommen?

Matthew Hoh: Ja, absolut. Anders wird es nicht gehen, wenn man den ländlichen Süden und Osten Afghanistan nicht länger ausgrenzen will.

derStandard.at: Haben die USA nicht eine moralische Verpflichtung etwa den Frauen gegenüber, die vom Taliban-Regime grausam unterdrückt wurden?

Matthew Hoh: Die Taliban sind ja nur eine extreme Sekte der paschtunischen Kultur. In den paschtunischen Gebieten Afghanistans werden die Frauen heute noch genauso behandelt wie vor dem Sturz der Taliban-Regierung. In Qalat (Stadt in der Provinz Zabul im Süden Afghanistans, Anm.), wo ich stationiert war, wohnen 3.000 Menschen neben etwa 3.500 amerikanischen, rumänischen und afghanischen Soldaten. Sogar dort leben die Frauen völlig rechtlos, genau wie damals, als die Taliban an der Macht waren. Die Frauen müssen sich komplett verhüllen, dürfen das Haus nicht ohne männliche Begleitung verlassen, Mädchen werden, wenn sie zwölf Jahre alt sind, weggesperrt.

derStandard.at: Was schließen Sie daraus?

Matthew Hoh: Der Westen kann nicht durch Krieg die Kultur und die Gesellschaft eines Landes verändern. Wer das mit der Waffe in der Hand versucht, darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen wehren und revoltieren. Anderseits sieht man in Afghanistan durchaus erste Anzeichen der Moderne, etwa, dass viele Afghanen mit Handys herumlaufen. Wenn man die Lage der Frauen ändern will, muss man das mit Information tun, mit Bildung und vor allem mit Zeit. Man muss die Taliban wieder in den politischen Prozess einbeziehen, ohne sie kann es keine Stabilität und kein Ende der Gewalt geben.

derStandard.at: In Ihrem Rücktrittsschreiben sprechen Sie häufig von "Valleyism". Was meinen Sie damit?

Matthew Hoh: "Valleyism" ist im Grunde eine kleinteiligere Spielart von Nationalismus. Die meisten Menschen in Afghanistan wohnen traditionell in Tälern, entweder an Flüssen oder zwischen Bergen. Es ist sehr schwierig, sich dort zu bewegen, weswegen erstens große Isolation und zweitens Ressourcenknappheit herrscht. Deshalb haben die Bewohner kein Interesse daran, dass Fremde ins Tal kommen und womöglich auch noch die wenigen Ressourcen wegnehmen. Gerade die paschtunische Kultur, die auch aus Dingen wie Rache und Gastfreundschaft besteht, schätzt den Wert der persönlichen Ehre und des persönlichen Besitzes sehr hoch ein.

Paschtunische Männer wollen keine Fremden im Tal, die ihnen Befehle erteilen. Sie gehen aber auch nicht ins nächste Tal, um es zu erobern. Darum kann effektives Regieren nur im kleinstmöglichen Bereich funktionieren. Die ländlichen Paschtunen, die im Süden und Osten die westlichen Truppen bekämpfen, tun das nicht, weil sie sich ideologisch mit den Taliban verbunden fühlen. Sie kämpfen gegen uns, weil sie uns nicht in ihrem Tal haben wollen. Wir sprechen von sehr armen Menschen, die eine Lebenserwartung von 44 Jahren haben. Ein Mensch, dessen Leben so schwierig ist, hat nur seine Traditionen, seine Ehre, seine Familie.

derStandard.at: Kürzlich sagten Sie in der TV-Sendung News Hour with Jim Lehrer, Al Kaida existiere in Afghanistan nicht. Warum glauben Sie das?

Matthew Hoh: Natürlich war Afghanistan bis 2001 ein sicherer Rückzugsort für Al Kaida. Aber heute gibt es kaum Berührungspunkte zwischen den Taliban und Al Kaida. Al Kaida ist eine weltweit operierende Terrorgruppe, die ein Kalifat etablieren will. Die Taliban sind eine lokale Gruppe, vor allem im Süden und Osten Afghanistans, die weder die gleichen Visionen noch die gleichen Ziele wie Al Kaida haben.

Klar, die Al Kaida-Führer waren in Afghanistan, es wurde dort trainiert und Geldströme an Al Kaida gingen von Afghanistan aus, aber man darf auch nicht vergessen, dass die Mehrheit der 9/11-Attentäter ihre Taten in Europa vorbereitet und Flugschulen in Florida besucht haben. Die Idee, dass Al Kaida Gebiete wie etwa den Süden Afghanistans zur Durchführung ihrer Aktionen will oder braucht, ist falsch.

derStandard.at: Sondern?

Matthew Hoh: Al Kaida braucht für ihren Terror ein Haus etwa so groß wie meines, vielleicht noch mit einem Garten dabei. Das Problem ist, dass die USA und die NATO nun 40.000 weitere Soldaten nach Afghanistan schicken, um zu verhindern, dass die Al Kaida das Land wieder übernehmen. Und was ist die Antwort der Al Kaida? Sie schickt einen Nigerianer, der in London lebte, über zwei verschiedene Flughäfen mit Sprengstoff in der Unterhose in Richtung USA. Wir tun unseren Soldaten keinen Gefallen, wenn wir sie in einen Krieg schicken, der keinerlei Auswirkungen auf die Sicherheit der Menschen im Westen hat. (Florian Niederndorfer/derStandard.at, 25.1.2010)