Der US-armenische Politologe Richard Giragosian glaubt noch an die Öffnung der Grenze zwischen Armenien und der Türkei. Aus innenpolitischen Gründen habe die türkische Regierung ein Junktim zwischen dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in Berg-Karabach und der historischen Normalisierung mit Armenien hergestellt, sagte er Markus Bernath bei einem Gespräch in Eriwan.
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STANDARD: Mit dem Protokoll über die Grenzöffnung und die Normalisierung mit Armenien hat die Türkei ihren Partner Aserbaidschan verprellt, ihren politisch und kulturell engsten Verbündeten im Kaukasus. Seither rudert die Regierung in Ankara zurück oder?
Giragosian: Die Beziehungen der Türkei zu Aserbaidschan waren das erste Opfer des Normalisierungsprozesses mit Armenien. Die Türkei ist überzeugt, dass das Schlimmste hier vorbei ist und dass die begonnene Normalisierung mit Armenien nur die Korrektur einer fehlgeschlagenen Politik ist. Viele türkische Regierungsvertreter waren meiner Ansicht nach frustriert darüber, dass Baku sie als Geisel nahm und ihre politischen Möglichkeiten in der Region begrenzte, nicht nur mit Blick auf Armenien. Von Armenien aus betrachtet, gibt es natürlich eine Asymmetrie: Die Öffnung der Grenze zur Türkei ist das Thema Nummer eins, die Top-Priorität in der Außenpolitik, ebenso wie Berg-Karabach. Für die Türkei aber ist das nur eines von mehreren Themen neben Zypern, der Kurdenfrage usw. Manchmal gibt es da ein Missverständnis darüber, wie beide Seiten diesen Normalisierungsprozess sehen und sich selbst. Eine Lösung des Konflikts um Berg-Karabach ist aber nicht länger eine Vorbedingung für die Türkei, glaube ich – trotz aller politischer Rhetorik und öffentlich erhobener Forderungen auf türkischer Seite.
STANDARD: Was lässt Sie so denken?
Giragosian: Vor allem weil das Thema Berg-Karabach aus dem Protokoll herausgenommen wurde. Ich sehe mehr einen Widerspruch der türkischen Politik zwischen den legalen diplomatischen Verhandlungen, in denen die Lösung des Karabach-Konflikts nicht länger eine Vorbedingung ist, und der öffentlichen Diplomatie, die dazu da ist, Aserbaidschan zu beruhigen. Das sind Testballons, glaube ich. Die Türkei will sehen, wie weit sie damit gehen kann, sie will die Armenier auf die Probe stellen, die internationale Gemeinschaft, auch die Aserbaidschaner. Sie haben nur einen strategischen Irrtum begangen. Die Türkei hat Aserbaidschans Antwort unterschätzt (v.a. die Drohung mit der Umleitung von Erdgas über Russland, Anm.).
STANDARD: Was ist nun die Verbindung zwischen Grenzöffnung und Berg-Karabach? Kann man das eine wirklich ohne das andere haben?
Giragosian: Es hängt davon ab, wie man Fortschritt im Konflikt um Karabach definiert. Man versucht hier, den Anschein von Fortschritt zu erzeugen, um den Prozess einer Friedenslösung zu gerechtfertigen, ohne jede praktische Ergebnisse. Die Minsk-Gruppe (im wesentlichen die USA, Russland und Frankreich, die im Auftrag der OSZE vermitteln, Anm.) unterstützt das mit einer gemeinsamen Erklärung zu den Madrid-Prinzipien (grundsätzliche Einigung Armeniens und Aserbaidschans beim OSZE-Ministerrat in Madrid 2007, Anm.) und einer Vielzahl anderer diplomatischer Aktivitäten. Die Türkei versucht wahrscheinlich zu sehen, wie viel sie dabei gewinnen kann. Aber ich erwarte keinerlei Durchbruch bei Karabach. Ich glaube wirklich, die beiden Fragen – Grenzöffnung und Karabach – sind voneinander getrennt worden. Die Vorbedingung ist weg. Und für die Türkei ist es schwierig, das Thema zu diesem späten Zeitpunkt zurück in das Protokoll zu packen, nachdem es bereits herausgenommen worden war.
STANDARD: Sie nehmen die Äußerungen des türkischen Regierungschefs also nicht zu Ernst?
Giragosian: Meine Sorge über den Normalisierungsprozess zu diesem Zeitpunkt ist, dass er zu abhängig ist von der türkischen Innenpolitik. Das ist ein Feld, auf dem weder die Amerikaner, die Europäer noch gar die Armenier Einfluss haben. Der Ball ist ganz bei den Türken. Aber wir sind zu weit gegangen, um noch umzukehren. Deshalb bin ich immer noch optimistisch. Das türkische Parlament wird vor Februar oder März nichts bei der Ratifizierung der Protokolle unternehmen, um möglichst viel politisches Gewicht herauszuschlagen vor dem 24. April, dem 95. Jahrestags des Genozids an den Armeniern, wenn der amerikanische Präsident zu dieser Frage wieder Stellung nimmt. (derStandard.at, 26.1.2010)