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Bei vielen Patienten mit chronischen Wunden herrscht ein außerordentlich großer Leidensdruck.

Elisabeth Lahnsteiner leitet als Wundspezialistin die Wund.Ordination in Wien, die österreichweit erste interdisziplinäre Spezialpraxis für die Behandlung chronischer Wunden.

Foto: privat

In Österreich leiden geschätzte 300.000 Menschen an chronischen Wunden. Diese schlecht heilenden Hautstellen belasten Patienten nicht nur durch Schmerzsymptomatik, Entzündungen und Infektionen, sondern vor allem auch psychisch: Sie riechen, nässen, bedeuten Einschränkungen im täglichen Leben, auf der Beziehungsebene und im Freizeitverhalten. Wie chronische Wunden entstehen, welche Auswirkungen sie auf Körper und Seele von Patienten haben und warum sie nach einem strukturierten Behandlungskonzept verlangen, erklärt Wundexpertin Elisabeth Lahnsteiner im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: Was sind chronische Wunden und was unterscheidet sie von akuten?

Lahnsteiner: Eine chronische Wund kommt innerhalb von sechs Wochen nicht zur Abheilung - das ist der Zeitrahmen für den physiologischen Heilungsverlauf. Meist sind damit Schmerzen und eine überschießende Entzündungsreaktion im Wundgebiet mit Entwicklung einer Wundinfektion verbunden. Da die zellulären Stoffwechselprozesse gestört sind, ist ein ganz anderes Behandlungskonzept als bei einer akuten Wunde erforderlich.

derStandard.at: Gibt es Risikogruppen, die anfälliger für chronische Wunden sind?

Lahnsteiner: Bei bettlägerigen, immobilen Menschen entsteht durch die mangelnde eigenständige Bewegung eine verstärkte Druckeinwirkung auf den Gesäß- oder Fersenbereich, was folglich zu einer raschen Entstehung von Druckgeschwüren (Dekubitus) führt.

Weiters können sich nach schwierigen chirurgischen Eingriffen chronisch verlaufende Wundheilungsstörungen entwickeln. Der Ursprung kann aber auch in einer Durchblutungsstörung im Gefäßsystem liegen, so zum Beispiel eine chronisch venöse Insuffizienz (Krampfadern) oder eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (Arteriosklerose). Auch Diabetiker haben ein besonders hohes Risiko. Wichtig ist, rechtzeitig zum Arzt zu gehen, denn je früher ein Hautdefekt behandelt wird, desto komplikationsloser kann er zur Abheilung gebracht werden.

derStandard.at: Wodurch entstehen Wundheilungsstörungen?

Lahnsteiner: Die Ursachen können vielfältig sein. Lokale Faktoren, die eine rasche Abheilung verzögern sind Krusten, Ödeme, Blutergüsse, bakterielle Superinfektionen, Durchblutungsstörungen als auch Knochenveränderung durch Polyneuropathie (Erkrankungen der peripheren Nerven, Anm.). Metabolische Störungen wie Diabetes mellitus, erhöhte Fettwerte, Mangel an Eiweiß, Vitaminen, Spurenelementen oder Medikamenten wirken ebenfalls wundheilungshemmend. Das biologische Alter des Patienten, das Immunsystem und auch soziale Komponenten sind weitere Einflussfaktoren.

Bei Dekubitus-Patienten führt eine Druckeinwirkung auf derselben Körperstelle bereits nach wenigen Stunden zu einer nicht mehr ausreichenden Sauerstoffversorgung des Gewebes und die Zellen sterben ab. Wird die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt, entstehen rasch tiefe Hautdefekte bis auf den Knochen. Um eine bedrohliche Knocheninfektion zu verhindern muss rasch behandelt werden.

Chirurgische Eingriffe am Bauch, bergen trotz sorgfältigen chirurgischen Vorgehens ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung oberflächlicher Wundinfektion durch die Unzahl an Bakterien im Darm. Bei Operationen an bestimmten Körperregionen, wie Gelenken, verstärkt sich durch die erhöhte mechanische Hautspannung das Risiko, dass Nähte oder Wundränder teilweise auseinanderklaffen und sich der Wundverschluss dadurch verzögert.

derStandard.at: Welche Körperteile sind überwiegend betroffen?

Lahnsteiner: Häufig sind die Beine betroffen - oft in Verbindung mit dem diabetischen Fuß-Syndrom, schmerzhaften arteriellen Durchblutungsstörungen oder Veränderungen im venösen Blutfluss mit Ausbildung von Krampfadern, Ödemen und Hautekzemen. Bei bettlägerigen, immobilen Patienten entstehen die Wunden an verschiedenen druckbelasteten Körperstellen, vor allem im Sakralbereich, im Bereich der Hüfte, an der Ferse oder auch im Ellbogenbereich.

derStandard.at: Sind schlecht heilende Wunden nur "lästig" oder können sie auch gefährlich werden?

Lahnsteiner: Sie können insofern gefährlich werden, da die normale Entzündungsreaktion, die der Körper startet, wenn ein Hautdefekt vorliegt, nicht zum Stillstand kommt. Daraus entwickelt sich eine chronische Entzündung, eine verstärkte Schmerzsymptomatik und die Gefahr einer manifesten Infektion. Diese kann im besten Fall, lokal begrenzt bleiben, aber je nach klinischem Zustandsbild des Patienten sich auch im ganzen Körper ausbreiten. Bei Patienten mit Risikofaktoren - wie Diabetes, Stoffwechselerkrankungen, Durchblutungsstörungen oder herabgesetztem Immunsystem - erhöht sich diese Gefahr. Diese Patienten müssen dann meist stationär zur Behandlung aufgenommen werden.

Auch die Art der Keime auf der Wunde spielt eine Rolle: Es gibt sehr hoch pathogene Keime, bei denen empirisch zur Lokaltherapie mit antimikrobiellen Wundverbänden eine Antibiotika-Therapie erforderlich ist.

derStandard.at: Wie kann Patienten geholfen werden? Wie sieht die Wundtherapie aus?

Lahnsteiner: Man muss hier ganz strukturiert und interdisziplinär vorgehen: Zuerst wird der Patient von der Ärztin oder dem Arzt klinisch untersucht und nach der Ursache der Wundheilungsstörung gesucht. Darin liegt der erste Therapieansatz. Dann wird die Wunde vermessen, fotodokumentiert und der Wundgrund, Wundrand und die Wundumgebung klinisch beurteilt. Je nach Wundheilungsphase wird aus der Vielzahl der modernen Wundverbände der individuell für die Wunde passende ausgewählt. 

Ganz entscheidend für den dauerhaft-therapeutischen Erfolg ist es, den Blick nicht nur auf die Wundtherapie zu richten sondern parallel dazu die auslösenden und beeinflussenden Faktoren mit zu behandeln.

derStandard.at: Wie wirken die Wundverbände?

Lahnsteiner: Die modernen Wundverbände unterstützen die körpereigenen Heilungskräfte, sodass die Wunde aus der chronisch-stagnierenden Phase wieder in den physiologischen Heilungsverlauf zurückgeführt wird. Man schreibt ihnen eine Regulierung der gestörten Stoffwechselprozesse, im Gewebsaufbau und Wundverschluss zu. Moderne Wundverbände sind atmungsaktiv, sanft und anschmiegsam, verkleben sich nicht mit der Wunde und gewähren somit einen schmerzfreien und selteneren Verbandwechsel. Die Kosten der Wundverbände werden übrigens per Verordnungsschein von den Krankenkassen übernommen.

Häufig können lokale Wundinfektion nur mit keimabtötenden Wundauflagen, wie zum Beispiel mit nanokristallinem Silber, eingedämmt werden. Diese töten rasch und irreversibel Bakterien, Viren und Pilze ab, sodass dadurch medikamentöse Zusatztherapien häufig eingespart werden können. Es bedarf zahlreicher Erfahrung um aus der Vielfalt der Verbände, Kompressionssysteme und Bandagen die individuell erforderlichen Produkte auszuwählen.

derStandard.at: Wie lange dauert es durchschnittlich, bis eine chronische Wunde, wenn sie richtig behandelt wird, abheilt?

Lahnsteiner: Das hängt von der Grunderkrankung, dem Immunstatus des Patienten und vom Ausmaß des Gewebsdefektes ab. Erstellt man einen strukturierten Wundtherapieplan, kann man das Leid der Patienten zeitlich deutlich verkürzen und mildern. Das Geheimnis eines raschen Behandlungserfolges ist, neben der speziellen Wundbehandlung, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Spezialisten unterschiedlicher Fachdisziplinen wie Gefäßchirurgie, Orthopädie, Dermatologie, Plastische Chirurgie, Interne als auch mit Diätologen, Orthopädietechnikern und der Podologischen Fußpflege. In dieser individuellen gesamtheitlichen Zuwendung und Kompetenz heilen oft jahrelang bestehende Wunden rasch und dauerhaft ab.

derStandard.at: Wie viele Menschen sind in Österreich von chronischen Wunden betroffen?

Lahnsteiner: Offiziell wird angenommen, dass rund 150.000 Menschen an chronischen Wunden leiden. Die Dunkelziffer ist aber hoch, ich schätze die Zahl fast doppelt so hoch ein. Viele Patienten leiden oft Jahre unter chronischen Wunden und sind es gewöhnt, einen offenen Fuß haben, ohne sich in ärztliche Behandlung zu begeben.

derStandard.at: Inwieweit beeinträchtigen schlecht heilende Wunden die Lebensqualität?

Lahnsteiner: Die Lebensqualität ist oft sehr stark beeinträchtigt. Bei vielen Patienten mit chronischen Wunden herrscht ein außerordentlich großer Leidensdruck. Sie sind in der täglichen Körperhygiene eingeschränkt, können nicht schwimmen gehen, haben Dauerschmerzen und sind in ihrer Freizeitgestaltung und im Urlaub enorm eingeschränkt, viele isolieren sich sozial. Auch die Beziehungsebene wird beeinträchtigt, wenn einer der Partner eine chronisch infizierte, übelriechende Wunde hat, die schmerzt und nässt. Es sind viele soziale Aspekte, die hier zum Tragen kommen.

Wundpatienten brauchen Zeit und vor allem Zuwendung. Nicht nur die Wunde selbst macht Patienten zu schaffen, sondern auch die daraus resultierende psychische Belastung. Dieses Wahr- und Ernstgenommenwerden ist ein ganz wichtiger Aspekt für Patienten. (derStandard.at, 27.01.2010)