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"Die Berliner Mauer fiel 1989 – wann fallen die Mauern in Belfast?" , fragt diese Frau auf einem der Pressefotos des Jahres 2009. Die mühsam errichtete Koalitionsregierung Nordirlands steckt in der Krise. Neuwahlen könnten den Prozess gefährden.

Foto: Reuters/McNaughton

Die Premierminister von Großbritannien und Irland versuchen in zähen Gesprächen, ein Aus der Koalition zu verhindern

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Belfast/Dublin - Bis drei Uhr früh dauerten die zähen Verhandlungen im Schloss Hillsborough, einem Sitz der britischen Königin südlich der nordirischen Hauptstadt Belfast - und am Dienstagvormittag begann das Tauziehen von neuem. Auf dem Spiel stand das Überleben der über Jahre mühselig aufgebauten Koalitionsregierung Nordirlands.

Der britische Premierminister Gordon Brown und sein irischer Amtskollege Brian Cowen flogen ein, um die Gespräche selbst in die Hand zu nehmen. Die beiden größten Parteien Nordirlands, die aus der Untergrundorganisation IRA hervorgegangene Sinn Féin und die einst vom protestantischen Pfarrer Ian Paisley gegründete Democratic Unionist Party (DUP), streiten um den Zeitpunkt, wann sie endlich die Kompetenzen über Justiz und Polizei von London übernehmen wollen.

Sinn Féin drängt seit drei Jahren auf eine verbindliche Zusage. Die DUP unter dem von einem Familienskandal geschwächten Regierungschef Peter Robinson sperrt sich mit dem Hinweis darauf, das nötige Vertrauen der Bevölkerung in Sinn Féin sei noch nicht vorhanden. Doch als größter Stolperstein erweist sich die Forderung Robinsons, die sogenannte Paradenkommission abzuschaffen. Dieses Gremium bewilligt oder verbietet seit Jahren die oftmals provokativen Paraden des protestantischen Oranier-Ordens.

Die amtierende Koalition unter Robinson und seinem Sinn-Féin-Stellvertreter Martin McGuinness hat nie Tritt gefasst und ist letztlich nicht handlungsfähig. Sinn Féin verliert sichtlich die Geduld und droht, die Regierung zu sprengen. Dann müssten vorgezogene Wahlen abgehalten werden.

Viel zu verlieren

Dabei hat der angeschlagene Robinson am meisten zu verlieren: Seine Wähler werden von einer neuen Gruppierung angelockt, die jegliche Zusammenarbeit mit Sinn Féin ablehnt. Unter diesen Umständen könnte Sinn Féin als größte Partei aus Neuwahlen hervorgehen - mit Anspruch auf das Amt des Chefministers. Um diesen protestantischen Albtraum abzuwenden, haben in jüngster Zeit geheime Kontakte über einen Zusammenschluss der beiden größten protestantischen Parteien mit den britischen Konservativen stattgefunden. Die könnten dann die größte Gruppierung darstellen. Die britischen Wahlen Anfang Mai böten einen ersten Test.

Die Risikofreude der Parteien wird durch zwei parallele Skandale geschwächt: Der Ehebruch und dubiose Geschäfte von Robinsons Gattin Iris haben seine fundamentalistischen Stammwähler schockiert. Gleichzeitig muss sich Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams gegen Vorwürfe verteidigen, er habe jahrelang sexuelle Delikte - etwa seines Bruders - innerhalb seiner Partei vertuscht und andere Kinder dem Risiko des Missbrauchs ausgesetzt.

Dass Brown und Cowen selbst nach Belfast eilen mussten, zeigt, wie unreif das politische System Nordirlands geblieben ist. Anschläge von IRA-Splittergruppen auf nordirische Polizisten belegen, dass es nicht an Opportunisten mangelt, die ein Scheitern der Politik ausnutzen könnten. (Martin Alioth/DER STANDARD, Printausgabe, 27.1.2010)