Victor Adler und Karl Kraus gehören zu den prominentesten Juden, die sich vom mosaischen Glauben lösten, hier amtlich bestätigt von der Stadt Wien

Foto: Institut Österr. Biogr. Lexikon der ÖAW

"Es gab Menschen", sagt Anna Staudacher, "die sind aus ihrer Religionsgemeinschaft ausgetreten, haben widerrufen, sind wieder ausgetreten, haben sich taufen lassen - bis zu sechs oder sieben Mal." Allerdings erst ab 1868. Bis dahin, so führt die Historikerin weiter aus, galten in der Monarchie sehr restriktive Gesetze, was Glaubenszugehörigkeit und deren Veränderung anging. "Es war nur ein - irreversibler - Übertritt von nichtchristlichen Religionen zum Christentum möglich. Umgekehrt ging's nicht", und Konfessionslosigkeit gab es vor dem Gesetz ebenso wenig.

Die interkonfessionellen Gesetze vor rund 140 Jahren bedeuteten also eine gewisse Liberalisierung, zumindest auf dem Papier. Staatsbürger hatten die Möglichkeit zum Übertritt in jede Richtung und nützten sie vor allem aus drei Gründen: wegen einer geplanten Heirat, um den Namen zu ändern und wegen der Kinder. Diese Kriterien gaben zu vielen verwickelten Entscheidungen Anlass, sie beförderten ein Lavieren durch Paragrafen und gesellschaftliche Vorstellungen und leisteten verschiedensten Anpassungsmanövern Vorschub.

Diese Verwicklungen zu analysieren, hat sich Staudacher zur Aufgabe gemacht. Sie leitet die Abteilung Austrian Jewish Biography am Institut Österreichisches Biographisches Lexikon der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ist Geschichte-Dozentin an der Wiener Universität. Seit zwei Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit den Lebensläufen von Juden aus allen Teilen der Monarchie.

Sie schildert ein Beispiel für die Taktiken, mit denen man die immer noch existierenden Hindernisse wenigstens teilweise aus dem Weg räumen konnte: "Es gab die so genannte Notzivilehe für Konfessionslose, da Christen und Nichtchristen nach wie vor keine gültigen Eheverträge schließen konnten. Bei einem eventuellen Rücktritt zur Kirche blieb die staatlich geschlossene Ehe aufrecht, und sie konnte auch kirchlich konvalidiert werden."

Der ehemals katholische Teil habe das oft nicht ausgehalten, sagt Staudacher. "Zunächst war der Austritt ja etwas ganz Schlimmes, die Angst vor der ewigen Verdammnis war groß. Die Kirche hat sich dies zunutze gemacht und gesagt: Ja, eine Rückkehr ist möglich, aber nur unter der Bedingung, dass der jüdische Teil sich taufen lässt. Sie war ja bestrebt, ihre Schar zu erhalten und zu vermehren." De facto liefen solche Ehen also meist zugunsten der Mehrheitsreligion: Die Kinder wurden katholisch erzogen, und oft zog der jüdische Elternteil nach, etwa wenn sie das Schulalter erreichten.

Abschwörungsformel

Viele von der immer noch herrschenden Benachteiligung betroffenen Juden in der Monarchie traten aus der Kultusgemeinde aus. Die Änderung von prononciert jüdischen Namen wie Kohn oder Levi war ebenfalls möglich - allerdings nur, wenn man sich taufen ließ. Dazu musste man aber zuerst eine Abschwörungsformel aussprechen, die man, so Staudacher, "als ehrenrührig bezeichnen kann. Sie war furchtbar für alle Nicht-Christen. Für Juden lautete die Aufforderung, aus dem Lateinischen übersetzt: ,Verabscheue die jüdische Perfidie, weise den hebräischen Aberglauben zurück!'"

In der protestantische Kirche mussten Konvertiten nicht derart buchstäblich zu Kreuze kriechen. Daher passierte es häufig, dass Juden zunächst zum evangelischen Glauben übertraten und dann katholisch heirateten - ohne erzwungene Abschwörung, die innerlich sowieso nicht nachvollzogen wurde.

Unter den vielen weiteren biografischen Mäandern jener Zeit führt Staudacher noch das Beispiel des Staatsrechtlers Hans Kelsen an, der zunächst zum katholischen Glauben übertrat. "Er verliebte sich aber in ein jüdisches Mädchen; sie ist zu den Protestanten konvertiert, er ebenfalls, sie haben dann protestantisch geheiratet - und das alles innerhalb von vierzehn Tagen."

Verdeckte Herkunft

18.000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868-1914: Das ist, nach Namen und Quellen geordnet, ein Ergebnis ihrer enorm aufwendigen Recherchen in Wiener, niederösterreichischen und Bundesarchiven, zusammengefasst in ... meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben (Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 2009).

Warum hat Staudacher sich diese Arbeit gemacht? Einerseits, sagt sie, weil es Grundlagenforschung sei. Gerade bei Prominenten sei die jüdische Herkunft durch Konversion und Namensänderung verdeckt und ignoriert worden. Der jüdische Beitrag zum österreichischen Kulturleben sei also größer, als man bisher schon angenommen hat.

Darüber hinaus seien die Eheschließungen und ihre ausschließlich an der Taufe orientierten Kriterien ein Beleg dafür, wie wenig das "rassische Denken" bis zur Jahrhundertwende mitgespielt hat. Solche Kategorien spielten in der damaligen Gesellschaft noch eine geringe Rolle.

Schließlich will die Geschichtsforscherin das Augenmerk auf die vielen Konvertiten abseits großer Namen wie Karl Kraus oder Victor Adler lenken. Im vergangenen Frühjahr war sie auf einer internationalen Konferenz in Berlin über versteckten Glauben oder doppelte Identität, wo es vorwiegend um bekannte Schicksale ging. Mit den Daten aus Wien betrat sie forscherisches Neuland. "Bei der systematischen Suche sieht man erst, dass der überwiegende Teil normale oder arme Leute waren, denen es im materiellen Sinn wenig genützt hat, wenn sie übergetreten sind. Kleinhändler ist Kleinhändler geblieben." (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 27.01.2010)