Rubens Gerchman, der Kitsch und Pop-Art "kannibalisierte", gestaltete auch das Cover von "Tropicália ou Panis et Circensis", dem – angeblich – berühmtesten Longplayer jener Jahre.

 

 

 

 

Foto: Kunsthalle

Filmischer Tropicalismo: Glauber Rochas "Terra em Transe" (1967)

 

 

 

 

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Caetano Veloso 1968

 

 

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Wien - Eine "Hippie-Bewegung am Palmenstrand" : So bringt Kurator Thomas Mießgang die jenseits von Stil oder Genregrenzen agierende kulturelle und politische Strömung der Tropicália auf eine poppige Formel. Und ergänzt:"Vor dem Hintergrund einer Militärregierung." Wesentliche Triebfeder der Bewegung war die Reaktion auf den brasilianischen Militärputsch und die damit verbundene repressive Politik.

Noch am ehesten bekommt man die Tropicália zeitlich zu fassen, und die ist, hinsichtlich ihrer kurzen Blüte 1967 und 1968, weniger eine Bewegung als vielmehr Geist. Aktuell sucht sich dieser in der Wiener Kunsthalle auszubreiten. Aber die sibirische Kälte kennt kein Pardon, und so steht man mit lammgefütterten Stiefeln deplatziert im Sand von Hélio Oiticicas Tropicália. Und mit mondrianesken Favela-Hütten im Rücken beobachtet man die zwei Blauschopf-Amazonas-Pagageien.

Tropicália - so wie Installation und Kunsthallenschau hieß 1967 auch die von Oiticica initiierte Ausstellung am Museum moderner Kunst in Rio. Ein kräftiger Lebensbeweis aktueller brasilianischer Kunst, wo auch der Begriff der Tropicália geboren wurde: Oiticica, der damals führende Theoretiker unter den brasilianischen Künstlern, betont, diesen schon lange, bevor er allgemein Mode wurde, gebraucht zu haben. Eine kulturelle Sprache, die der Kannibalismus eint: Gemeint ist eine fremde Kulturen, alle Kunst-, Musik, und Modeströmungen der "Ersten Welt" sich einverleibende Kunstpraxis - eine Auffassung, die auf Oswald de Andrades Anthropophagisches Manifest (Anthropophagie ist gleich Menschenfresserei) fußt.

Weiters: Tafelbildverneinend, den Betrachter mit allen Sinnen einbeziehend, politische, soziale, wie ethische Fragen stellend. Vor zehn Jahren widmete sich die Generali Foundation mit der Ausstellung Vivencias dieser unmittelbaren, ganzheitlichen Erfahrung durch Kunst mit größtenteils raumgreifenden, den Betrachter aktiv einbeziehenden Installationen; in der Kunsthalle dominiert - bis auf wenige Ausnahmen - eher spröde, sich nicht selbst erklärende Flachware. Auch das Vorglühen mittels Dokumentationen zur musikalischen Tropicália (siehe Artikel unten) misslingt im engen Vorraum. Angenehm ist, dass der Kurator großteils weder Positionen noch Arbeiten von Vivencias wiederholt.

Jedoch bleibt beim ambitionierten und konzentrierten Bemühen, Tropicália im historischen Kontext darzustellen und Verbindungen bis ins Heute zu ziehen, das Phänomen unkonturiert und schwammig. Viel Lektüre kann das Defizit ausgleichen. (Anne Katrin Feßler / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.1.2010)