Das subjektiv wahrnehmbare Geräusch lässt sich mit Hilfe des Patienten im Hörtest objektivieren.

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"90 Prozent aller gesunden Menschen vernehmen in schalltoten Räumen ein Ohrgeräusch", weiß Andrea Vogel, Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde im Tinnitus Zentrum Wien und macht damit vorweg auf die eigentliche Harmlosigkeit dieser akustischen Eindrücke aufmerksam.

Eine auditorische Sensation, die niemand hört außer man selber und die mittlerweile 500.000 Österreicher nicht nur bei absoluter Stille belästigt. Eine Erklärung, warum das physiologische Phänomen schlagartig auch im alltäglichen Umgebungslärm unüberhörbar wird, hat der amerikanische Neurophysiologe Pawel J. Jastreboff Ende der 80er Jahre gefunden. Er hat den Tinnitus als Überreaktion subkortikaler und kortikaler Gehirnregionen auf Innenohrsignale interpretiert. Insbesondere das limbische System sah er in diesen überschießenden Prozess involviert. Diese Funktionseinheit im Gehirn färbt das Ohrgeräusch sozusagen emotional ein. Die Folge: Das per se harmlose Geräusch wird von den Betroffenen plötzlich negativ bewertet, pathologisiert und im schlimmsten Fall katastrophiert. Der harmlose Tinnitus bekommt Krankheitswert.

Ursache Lärmtrauma

Beim akuten Tinnitus, dem zumeist eine periphere Ursache zugrunde liegt, ist die hohe Inzidenzrate nicht weiter erstaunlich. Werden doch primär Lärmtraumen dafür ursächlich verantwortlich gemacht. „Allein nach dem ACDC-Konzert in Wien kamen sechs Patienten mit einem Ohrgeräusch zu uns in der Praxis", erzählt Vogel vom Problem der Beschallung, das in Zeiten tragbarer Audioplayer immer mehr Menschen betrifft. Je akuter das Problem desto höher ist jedoch auch die Chance auf Spontanheilung und umso leichter ist den Betroffenen mitunter geholfen. Therapiestandard sind nach wie vor Cortison-Infusionen, deren positive Effekte allerdings nicht als gesichert gelten.

Quält ein Ohrgeräusch den Betroffenen mehr als drei Monate, dann wird es als chronischer Tinnitus klassifiziert. Zahlreiche organische Ursachen, darunter Akustikusneurinome, Blutgefäß- oder Kiefergelenkserkrankungen, können sich dahinter verbergen. Nach einer ausführlichen Ausschlussdiagnostik findet sich in den meisten Fällen allerdings nichts. Vielleicht weil 80% ihren ausschließlichen Auslöser in Stress oder anderen Belastungssituationen finden, wie Vogel vermutet. Was sich jedoch pathognomonisch so schwer zuordnen lässt, bereitet der Medizin in der Regel auch therapeutisch Probleme.

Retrainingstherapie bei chronischem Tinnitus

Im Tinnitus-Zentrum hat man sich darauf spezialisiert den Teufelskreis Innenohr und Hörzentrum mit Hilfe der Jastreboff'schen Retrainingstherapie zu durchbrechen. Das Behandlungsziel definiert die HNO-Expertin: „Der Betroffene lernt seinen Tinnitus ins Besenkammerl zu sperren". Was bedeutet: Das Ohrgeräusch bleibt, der Tinnitusgeplagte erwirbt aber die Fähigkeit es zu überhören.

Beratung und Aufklärung über akustische Verarbeitungsprozesse bilden ein Standbein des Retrainings. Nach dem Ausschluss einer körperlichen Erkrankung beginnt die die kognitive Verhaltenstherapie, die das Gehirn der Patienten dazu veranlasst den Tinnitus nicht mehr zu fürchten, sondern das Geräusch in den Alltag zu integrieren.

Hörgeräte und Rauschgeneratoren

Beim Vorliegen einer Schwerhörigkeit steht die Versorgung mit einem Hörgerät an erster Stelle, damit die individuell erlebte Stille, durchbrochen wird. Gut hörende Patienten werden mit sogenannten Rauschgeneratoren versorgt. Diese Geräte erzeugen ein konstantes Breitbandrauschen, leiser als das Ohrgeräusch. Sie dienen der Teilmaskierung, reduzieren die subjektive Lautstärke des Tinnitus und erleichtern damit die Ablenkung.

Die Erfolgsquote des Retrainings wird zwischen 50 und 80% angegeben. Das tröstet die Patienten zwar über den zeitlichen Aufwand der Behandlung hinweg, ein Wermutstropfen allerdings bleibt: „Chronische Tinnitus-Patienten bekommen hierzulande kaum finanzielle Unterstützung", bedauert Vogel und spricht hier von einer Zweiklassenmedizin. Die Kosten einer umfassenden Tinnitus-Therapie sind beträchtlich, die Dekompensation vieler Betroffenen ist derzeit vorprogrammiert. (derStandard.at, 16.2.2010)