Diese Rede wurde am 27. Jänner, dem Gedenktag der Auschwitz-Befreiung, anlässlich einer jährlich stattfindenden Mahnkundgebung am Wiener Judenplatz gehalten.

Liebe KollegInnen, ich friere heute als Sprecher des Verein Gedenkdienst, der sich seit vielen Jahren dafür engagiert, dass der 27. Jänner nicht der einzige Tag ist, an welchem wir diesem Teil unserer Geschichte „gedenken". Wir gedenken der Opfer der nationalsozialitischen Verbrechen, also jener Menschen, die ermordet, vertrieben und verletzt wurden. Aber lügen wir nicht dabei? Ich meine unsere „Gesellschaft", "unser Österreich". Gedenken wir überhaupt?

Auschwitz, weit entfernt

Auschwitz ist auf der geistigen Landkarte Österreichs nicht zu finden. 4400 Österreicherinnen und Österreicher besuchten letztes Jahr die Gedenkstätten in Auschwitz. 4400. Das sind um 400 weniger als von Singapur, wo etwa fünf Millionen Menschen leben, um 9.100 weniger als von Australien, und um 35.900 weniger als aus Norwegen. Diese Zahlen sind kein Aufruf, einen „Holocaust-Tourismus" in ein realistisches „Gruselkabinett" zu initiieren – sie veranschaulichen lediglich „unseren" Umgang mit einem Ort, der unweigerlich zu einem Teil unserer Geschichte geworden ist.

Jener Ort ist weniger als fünf Autostunden von Wien entfernt – und trotzdem wird er von unserer Bevölkerung gekonnt ignoriert.

Zogaj und wir

Hassparolen werden im Wiener Wahlkampf auf uns zukommen. Das „AusländerInnenthema" wird einen zentralen Punkt einnehmen. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind wieder die Ventile, über die ein Überdruck an Unzufriedenheit abgegeben wird.
Minorette, Arigona Zogaj, und Burkas und sind viel präsenter auf unseren „Landkarten" als unsere eigene Geschichte. Wir werfen Menschen vor, sich nicht mit unserer Geschichte zu identifizieren – obgleich nicht einmal „wir" es wagen, uns damit zu beschäftigen.

Inwie weit aber wagen wir uns vorwärts – ist es zielführend, das österreichische "Mauthausen-Patent"? 100.000 Schülerinnen und Schüler Mauthausen besuchen zu lassen um ihnen den Lagerschreck zu vermitteln – ist das sensibel, ist es konstruktiv?
Nicht der Schrecken des Lagers soll die SchülerInnen begleiten. Der Besuch sollte zur Bildung eines Bewusstseins beitragen; ein Bewusstsein, wohin Antisemitismus und Rassismus führen, und dass es möglich ist, Menschen zu jenen Gräueltaten zu bewegen. Dieses Bewusstsein muss Lehrlinge gleichermaßen begleiten wie Schülerinnen und Schüler. Und nicht nur am 27. Jänner.

Menschen zu kritischem Denken zu erziehen, sie zu unbeeinflusstem Handeln zu befähigen und zu legitimieren, sind bist jetzt unerreichte Ziele. Erst dann wird selbstmotiviert das rot-weiß-rote Deckblatt, welches Auschwitz verdeckt, entfernt. Wann ist es soweit? (derStandard.at, 28.1.2010)