116 Kilo bei 163 cm mit 14 Jahren: Maja bekam schon viele Diätpläne diktiert, doch schnelle Wunder gibt es nicht.

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Die "fette Kuh" geht ihr längst beim einen Ohr rein und beim anderen raus: Ihre halbe Kindheit kämpft die 14-jährige Maja gegen Übergewicht. Fettleibigkeit wächst zur Epidemie - schon Teenager stellen sich zur Magenoperation an.

Maja zieht ihr Leiberl hoch. Ein enormer Bauch wölbt sich nach vorne, Dehnungsstreifen durchfurchen das überbeanspruchte Gewebe. "Er ist schon ein bissl weicher", sagt sie und zwickt in eine Hautfalte. Für Maja ein Zeichen, dass ihre Körperfülle etwas abgenommen hat. Sie wiegt jetzt nur mehr 116 Kilo. Maja ist erst 14, doch beim Stiegensteigen schnauft sie wie eine alte Frau. Die Knie rebellieren unter der Last ihrer Masse, jeden Abend legt sie sich auf einen Gymnastikball, um die Rückenschmerzen zu lindern. Noch viel ärgere Leiden prophezeien ihr die Ärzte, von Diabetes bis zur Fettleber. Die üblichen Hänseleien in der Schule sind da die geringste Sorge. Die "fette Kuh", sagt Maja, gehe ihr längst "beim einen Ohr rein und beim anderen raus.

Österreich schlägt alle Rekorde

Morbide Adipositas heißt auf Fachchinesisch die Krankheit, die unter Halbwüchsigen um sich greift. Österreich knackt in der Disziplin Rekorde, laut OECD hat sich die Zahl der fettleibigen Burschen in vier Jahren fast verdoppelt. "Man muss sich ja nur auf der Straße umschauen", sagt der Arzt Kurt Widhalm - oder in seiner Ambulanz im AKH. Mädchen mit Speckrollen überm Hosenbund warten hier auf Rat, in Trainingsanzüge verpackte Buben, die sich so behäbig bewegen wie der Bulle von Tölz. Jede Woche habe er bereits Jugendliche mit 130, 140 Kilo in Behandlung, erzählt Widhalm. In der Chirurgie bekommen schon 16-Jährige Magenbänder verpasst wie der aus dem Leim gegangene Fußballstar Diego Maradona.

"Wie konnte es so weit kommen? Hat denn nie jemand was gesagt?": Diese Fragen stellt Widhalm jedem seiner Patienten. Er ist nicht der erste Mediziner, den Maja besucht. Viele haben ihr strenge Diätpläne unter die Nase gerieben, doch "nach drei Tagen habe ich immer das Würgen bekommen". Die Verstecke der Süßigkeiten waren leicht aufzuspüren, die berufstätigen Eltern außer Haus, und Taschengeld gab's auch noch. Maja hat es gerne in Red Bull, Eis und Schokolade investiert, eine Tafel pro Tag.

Auflösung familiärer Essensrituale, Snacks an jeder Ecke - nur zwei Phänomene, mit denen Experten die Epidemie des Übergewichts in der westlichen Welt erklären. Von der Rolltreppe bis zum Computer macht der Fortschritt Fußwege überflüssig; schon die E-Mail sorgt für sinkenden Kalorienbedarf, weil niemand mehr im Büro herumwandern muss. Sportflächen werden zugebaut, Schulen weiten im Zweifelsfall lieber Sprachunterricht und Informatik aus als die Turnstunden. Mangelnde Balance, fehlende Ausdauer, motorisches Ungeschick diagnostiziert der Sportwissenschafter Norbert Bachl bei immer mehr Maturanten: "Manche scheitern bei der Aufnahmeprüfung am Purzelbaum oder Seilklettern - und das sind jene, die Sport studieren wollen."

Widhalm ergänzt die Ursachenliste mit der von den Schulen bis zu den Praxen grassierenden Ignoranz: "Jeder schiebt das Problem weiter." Vom Kindergarten an müssten die Kleinen gemessen und gewogen, Risikogruppen herausgefiltert und Eltern - mitunter die schlechtesten Vorbilder - in Schulungen geschickt werden. Die Radieschen im Schulbuffet brächten genauso wenig wie die Diätferien im Sommer, wenn im Alltag alles so weitergehe wie gehabt: "Im Camp nimmt jeder ab - und nachher oft umso mehr zu."

Programme fehlen

In Österreich gebe es kaum taugliche Programme, sagt Widhalm. Maja soll deshalb, möglichst für Monate, in eine Reha nach Berchtesgarden, wo Diätologen, Physiotherapeuten und Psychologen für den Blick aufs große Ganze sorgen. Doch in der Regel zahlt die Krankenkasse nicht die 100 Euro pro Tag. Schneller wird die einfache, aber noch teurere Lösung genehmigt: die Operation.

"Kommt nicht infrage", sagt Majas Vater, "zumindest jetzt noch nicht." Erst wird es seine Tochter mit einer Strategie versuchen, die in der Adipositas-Ambulanz unter dem Begriff "kognitive Verhaltenstherapie" läuft. Weil sture Verbote nichts bringen, soll sie selbst lernen, was zu ändern ist. In einem Protokoll führt das Mädchen exakt Buch, was sie Tag für Tag isst - um den Ernährungsplan unter ärztlicher Anleitung Schritt für Schritt zu verbessern. Die ersten vier Kilo sind ihr "recht leicht gefallen", doch rasche Wunder verspricht die Methode nicht. 30 Kilo will Maja schaffen. Auf sie warten zwei schwierige Jahre. (Gerald John, DER STANDARD Printausgabe, 28.1.2010)