Walter Hemecker (Hg.), "Die Biographie - Beiträge zu ihrer Geschichte" . € 99,95/508 Seiten. de Gruyter, Berlin/ New York 2009

Parallel dazu erschienen: Bernhard Fetz (Hg.), "Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie" . € 99,95/508 Seiten. de Gruyter, Berlin/ New York 2009

Coverfoto: De Gruyter

"Da wir leben müssen - das Geld reicht noch bis Ende Januar - fange ich jetzt eine neue Arbeit an, die vielleicht einige internationale Chancen hat: eine Biographie aus der Zeit des II. Kaiserreichs, mit viel Gesellschaft darin." Im Pariser Exil in arger finanzieller Bedrängnis, kündigt Siegfried Kracauer am 3. November 1934 Leo Löwenthal seinen Offenbach an, an dem er unter größtem Zeitdruck arbeitet.

Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit wird der kalkulierte (bescheidene) Erfolg - der allerdings seinen Preis hat: Programmatisch als "Gesellschaftsbiographie" angelegt, sollte sich der Offenbach von den gängigen "Privatbiographien" grundlegend unterscheiden. Mit der Figur Offenbach sollte die Gesellschaft erstehen, "die er bewegte und von der er bewegt wurde" . Tatsächlich schreibt Kracauer den biographischen Plot dem Urmuster der Künstlerbiographie entlang, und das in ungewohnt lockerem Stil: Zugeständnisse an den Markt - "Da wir leben müssen ..." -, an die Erwartungen des Publikums an das Genre Biographie.

Theodor W. Adorno zeigte sich dem auf die "Abwege" der Kolportage geratenen Freund und ehemaligen Mentor gegenüber ungnädig. Harsch ging er in einem Brief vom 13. Mai 1937 an "Friedel" mit dessen Offenbach ins Gericht - indem er die Maßstäbe anlegte, mit denen Kracauer 1930 die romanhaften Biographien eines Stefan Zweig und Emil Ludwig gemessen hatte.

Weniger herb, zumindest im Ton, fiel seine kritische Besprechung in der Zeitschrift für Sozialforschung aus: Nicht nur der Rückfall in eine "tief bürgerliche" Konzeption von Individuum und Gesellschaft stieß Adorno sauer auf, sondern vor allem die saloppe Schreibe des brillanten Stilisten Kracauer. Dass er Tiefenschärfe herzustellen versuche, indem er den Hintergrund mit Anekdoten auspinsle, rücke seine Darstellung "in die Nähe eben jener individualisierenden Roman-Biographik" , der er, Kracauer, einige Jahre zuvor noch "so emphatisch opponiert" habe.

Die Konjunktur ist ungebrochen, und die marktgängige Biographie ist immer noch nach dem Muster des traditionellen Entwicklungsromans gestrickt. Erstaunlich, mit welcher Vehemenz da frisch drauflosfabuliert und eine "Handlungslogik" suggeriert wird, die um einer geschlossenen Lebensgeschichte willen den Wirrwarr unzähliger Ereignisse auf Intention und Notwendigkeit beruhen lässt; wie unbekümmert die zarten Bleistiftlinien der "Fakten" mit den pastos aufgetragenen Farben der Vermutungen zum Tableau vivant ausgemalt werden; wie, ohne sich um die Differenzen zwischen den Gefühlswelten literarischer Figuren und denen des Autors zu scheren, belletristische Werke auf biographische Indizien und Reminiszenzen des Autors hin durchmustert werden.

Dagegen hatte Johann Gottfried Herder schon 1768 für Bescheidenheit plädiert: Gegen die Selbstherrlichkeit des allwissenden Biographen schriebe er vor eine Lebensgeschichte gleichsam als Vorbehalt: "einige Begebenheiten von dem Leben - so wie ich sie weiß, und der Charakter desselben, wie er der Gestalt und Schwäche meiner Augen vorkommt".

"Wiederschein im Wasser"

Auch dem Verlangen nach "Unmittelbarkeit" und dem jovial vertraulichen Umgang des Biographen mit seinem Objekt erteilte schon Herder eine Absage: Der Biograph zeichne "das Bild der Sonne nicht aus ihrem stralenden Antlitz, sondern nach ihrem Wiederschein im Wasser" , hielt er in seinem Aufsatz Über Thomas Abbts Schriften dezidiert fest.

Was zu einem Gutteil den Erfolg der konventionellen Biographik ausmacht, die theoretische und methodische Unbedarftheit nämlich - nur keine Skrupel, schließlich muss eine Figur aus Fleisch und Blut vor den Leser hintreten! -, sorgte für den schlechten Leumund, den das Genre in wissenschaftlichen Kreisen über lange Zeit hinweg hatte.

In den letzten Jahren erfuhr es als interdisziplinäres Forschungsfeld indessen geradezu privilegierte Aufmerksamkeit. In zwei Bänden - einer ist der Geschichte der Biographie, ein zweiter deren Theorie gewidmet - legt das seit Herbst 2005 bestehende Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie die Ergebnisse vierjähriger einschlägiger Arbeit vor.

Die Aufrichtigkeit, mit der im Vorwort des Geschichte-Bandes der Zusammenstellung der Texte "ein gewisser Grad an Kontingenz" attestiert wird, nötigt einem durchaus Achtung ab. Weniger schon die Nonchalance, mit der gleich darauf die "traditionellen aristotelischen Ideale der Vollständigkeit und Systematik" verabschiedet werden und Kontingenz kurzerhand zu einem "Hauptprinzip der neueren Kulturwissenschaft" ausgerufen wird. Die 15 Beiträge beschränken sich bis auf wenige Ausnahmen darauf, einige allzu bekannte Wegmarken des Genres ein weiteres Mal zu umrunden, darunter eben auch Kracauer, dessen Abstriche vom Konzept einer Art "soziologischer Geschichtsschreibung" auf eine angesichts der politischen Entwicklungen wachsenden Skepsis gegenüber Kollektiven zugeschrieben werden; eine auf den ersten Blick plausible, aber keineswegs hinreichende Erklärung.

Die oben angesprochenen ungemein modern anmutenden Überlegungen Herders finden im 30-seitigen Beitrag, der dessen Thomas-Abbt-Aufsatz gewidmet ist, keine Erwähnung.

Ambitionierter als der Geschichte- gibt sich der Theorie-Band, der Beiträge aus verschiedensten Disziplinen versammelt, "die den Begriff des Biographischen konturieren" , und Fragestellungen bündelt, die in den theoretischen Debatten zum Genre in den letzten Jahren zentral waren: von Quellenkritik und der Theorie des Archivs über den Einfluss postmoderner Persönlichkeitstheorien auf den Subjektbegriff, die Konstitution von Identität als gesellschaftlicher Prozess und Gender (hier sorgt die Political Correctness für eine ziemlich unwuchtige Schwerpunktsetzung) bis hin zu Konzepten einer Kollektivbiographik, zur Rolle von Biographien und Biographen als Vermittlungsmedien bzw. -instanzen in kulturellen Transferprozessen und den Darstellungen des Schöpferischen in Künstler-Biopics.

Einer der interessantesten Beiträge (der gut in den Geschichte-Band gepasst hätte) befasst sich mit der experimentellen sowjetischen "Biographie des Dings" der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, der es unter anderem darum ging, das "Privatkapital der Geschichte" , auf das die sogenannten "großen Männer" ein Monopol hatten, gleichsam zu enteignen und an eine Vielzahl von Akteuren umzuverteilen. An avancierten Theorien fehlt es also seit langem nicht - die biographische Praxis wird sich darum so wenig scheren, wie sie das bisher schon tat. (Walter Schübler/DER STANDARD, Printausgabe, 30./31. 1. 2010)