Am Regiepult: Regisseurin Andrea Breth bei Probengesprächen mit Elisabeth Orth, die in "Quai West" die illegale Einwanderin Cécile spielt.

 

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Foto: Bernd Uhlig

Dreckiges Wasser. Wüstenlandschaft. Seelensteppe. Alles und nichts zwischen Himmel und Hölle und brutaler Wirklichkeit. Dunkle Gestalten stolpern und kriechen durch dieses grau in graue Finsterland. Und stürzen. Immer wieder. Tauchen aus der Düsternis auf, verschwinden wieder hinter Lagerhaustüren.

Ein paar Puzzlesteine von den Proben zu Quai West von Bernard-Marie Koltès; ein heftiges Stück, wie aus dem Hier und Jetzt gebrochen, brutal aktuell. Es ist die Geschichte der Flüchtlinge Rodolphe (Hans-Michael Rehberg), Cécile (Elisabeth Orth) und deren Kinder Charles (Philipp Hauß) und Claire (Merle Wasmuth); von Fak (Nicholas Ofczarek) und vom schweigenden, schwarzen, geheimnisvollen Abad (Maynard Eziashi). Kleindealer allesamt, Schmalspurganoven. Lebensverzweifelte, die in einer Lagerhalle am Fluss ihre Tauschhändel abwickeln.

In dieser Unterwelt stranden der selbstmordbereite Manager Maurice Koch (Sven-Eric Bechtolf) und seine Begleiterin Monique (Andrea Clausen). So künstlerisch radikal wie das Stück legt Andrea Breth ihre Inszenierung an, über die sie eigentlich nicht sprechen will, nur so viel: "Dieses Dunkel bringt bei diesem hochkomplizierten Text einen interessanten Effekt. Wenn man nichts sieht, achtet man umso genauer auf die Sprache. Und im Kopf des Zuschauers entstehen Bilder. Wir hören besser, wenn wir nichts sehen. Und schauen genauer, wenn wir nicht hören. Goethe hat einmal gesagt, eigentlich wäre er gern blind gewesen, dann hätte er besser schreiben können, weil er mehr gesehen hätte."

Standard: Bemitleiden Sie manchmal die Schauspieler für das, was Sie ihnen abverlangen - etwa wie bei "Quai West" auf einer zappendusteren Bühne zu spielen?

Breth: Nein! Es wird manchmal gesagt, dass ich ein autoritärer Mensch sei und alle um mich herum weinten. Stimmt nicht. Ich zwinge niemanden zu etwas. Schauspieler sind wie Kinder: Sie wollen spielen. Wenn ein Raum, wie ihn Erich Wonder gebaut hat, dem Ensemble einleuchtet, ist es bereit, sich darauf einzulassen.

Standard: Koltès wird, zumindest im deutschsprachigen Raum, nur selten gespielt. Warum haben Sie dieses Stück ausgesucht?

Breth: Geschrieben Mitte der 80er-Jahre, hat es etwas unglaublich Visionäres. Da sind diese zwei Hyperkapitalisten mit monströsem Verhältnis zueinander, die in der Lagerhalle eines heruntergekommen Viertels landen; dort treffen sie auf die Meisterdealer. Niemand kann an solch einem Ort überleben, wenn er das Dealen nicht beherrscht. Die tiefe, immer noch gültige Wahrheit des Stückes ist, dass diese zwei aufeinanderprallenden Welten nicht zueinanderkommen können. Auch heute nicht. Wer von uns geht denn in die Outcast-Viertel? Wir tun es nicht. Es ist uns fremd. Zu behaupten, man könne das verstehen, ist eine große Verlogenheit.

Standard: Man könnte den Eindruck haben, dass der Großbetrüger Koch diese armseligen Kleindealer verachtet.

Breth: Verachtung ist etwas Aktives. Nein, er verachtet nicht - er hält alles für sinnlos. Er ist vollkommen utopielos. Auch das ist das Zeitgemäße an dem Stoff. Das ist doch das Problem der Welt, in der wir leben: dass wir nichts mehr haben, woran wir glauben. Wir haben keinen Weltentwurf mehr. Was ich an dem Stück so grandios finde: Da gibt es in der Utopielosigkeit noch einen Gott - Abad - der uns erlösen kann.

Standard: Inwiefern?

Breth: Man weiß nicht genau, ob Koch von Abad getötet wird oder Selbstmord begeht. Aber jedenfalls erschießt Abad - der Name bedeutet Ewigkeit - am Ende seinen Freund Charles. Wobei, und das ist das Interessante bei Koltès: Es ist kein Mord, sondern Erlösung. Etwas zutiefst Humanes: Abad gibt Charles den Gnadenschuss. Da werden sich die Zuschauer sicherlich schwertun. Aber Koltès liefert keine moralische Bewertung.

Standard: Der Fluss bedeutet Trennung: zwischen Arm, Reich. Mann, Frau. Inländer, Asylanten. Himmel, Hölle. Ist er auch der Styx?

Breth: Am Anfang wird einmal gesagt: "Das ist nicht das Reich der Lebenden." Man kann es durchaus metaphorisch nehmen. Für mich ist es auch eine Art Hölle, durch die diese Figuren gejagt werden. Diese Lagerhallen gab's übrigens wirklich in New York: eine eigene Welt mit eigenen Möglichkeiten.

Standard: Koltès hatte eine sehr enge Beziehung zu Patrice Chéreau, der fast alle Koltès-Stücke uraufgeführt hat. Können Sie sich eine so enge Beziehung zu einem zeitgenössischen Schriftsteller vorstellen?

Breth: Ich kenne niemanden, der für mich in ähnlicher Weise das poetische Sprachrohr sein könnte. Die Beziehung zwischen Chéreau und Koltès finde ich großartig. Chéreau hat Koltès sehr gefördert. Sie haben einander sehr befruchtet. Aber es hat auch dazu geführt, dass Koltès niemanden außer Chéreau aushielt, der seine Stücke inszeniert - mit Ausnahme von Peter Stein.

Standard: Wodurch unterscheidet sich "Quai West" von anderen politisch aktuellen Stücken wie etwa Simon Stephens' "Motortown" ?

Breth: Motortown ist eines der Einwegstücke, wo jeder einer Meinung ist: ‚Ah ja. Krieg. Harte Sache." Mehr befördert das nicht. Das ist für mich Fernsehspiel, und das empfinde ich als etwas ganz Liederliches. Es gibt nicht einen einzigen Satz in Motortown, der elegant wäre. Bei Quai West gibt es einen Plot, aber darüber hinaus etwas Artifizielles. Eine Metaphorik. Koltès ist zeitgemäß und gleichzeitig poetisch. Da gibt es diese langen Monologe, die aber natürlich keine Monologe sind, sondern Dialoge. Der andere kommt nur nicht dazu, sich zu äußern. Abad etwa weigert sich, zu sprechen, wodurch der andere naturgemäß in eine Art von Rede-Irrsinn gerät. Mit seinem Schweigen bringt Abad seine Gesprächspartner zu einer Art von Wahrheit, die sie sonst nicht unbedingt sagen würden.

Standard: Sie sind in einem theateraffinen Haushalt aufgewachsen, Ihre Stiefgroßmutter war Schauspiellehrerin an der Falckenberg-Schule. Wollten Sie selbst nie spielen?

Breth: Ich bin ein monomanischer Mensch, ich möchte mir von niemandem erzählen lassen, was ich machen soll. Wäre ich Schauspielerin, würde ich vermutlich bei jedem Regisseur sagen: Nee, das spiel ich so nicht.

Standard: Muss man als Regisseur ein strukturierter Mensch sein?

Breth: Ja. Es ist wie Schachspielen. Man muss vorausdenken. Schwierig ist es, den Rhythmus zu finden. Anders als in der Oper, wo der Rhythmus vorgegeben ist, müssen wir während der Arbeit herausfinden: Wo ist es zu schnell? Wann hört man den Klang, wann nicht? Theater hat viel mit Musik zu tun. Koltès ist sogar in der Übersetzung (von Simon Werle) hochmusikalisch. Ich muss, damit ich inszenieren kann, jedes Wort als Gefühlshaushalt verstehen, spüren, welche Empfindung dahintersteckt. Quai West ist Literatur, hochpoetisch und dann wieder geradezu umgangssprachlich. Wenn man das nicht erwischt, wird es bleiern. Es muss eine gewisse Art von Jazz haben.

Standard: Haben Sie Angst vor der Premiere?

Breth: Vor der Veröffentlichung hat man immer Angst. Die Generalprobe ist die traurigste Probe für den Regisseur. Die Premiere ist ein Albtraum. Danach kommt das berühmte Loch. Und das Kind muss allein laufen.

(Andrea Schurian, DER STANDARD/Printausgabe, 29./30.01.2010)