New York - In Wien lernte der junge Amerikaner Jerome David Salinger 1937 nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch das Fleischerhandwerk, ehe er in die USA zurückkehrte und zu schreiben begann. Er verfasste zwar nur einen einzigen Roman und 35 Kurzgeschichten; seine letzte literarische Wortmeldung - die Veröffentlichung der Novelle Hapworth im Magazin The New Yorker - liegt 45 Jahre zurück, sein letztes Interview gab er vor dreißig Jahren: Dennoch gilt J. D. Salinger als einer der meistgelesen und -besprochenen US-Literaten der Nachkriegszeit.

Sein autobiografisch inspirierter Roman Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye) verschreckte zwar Anfang der 1950er-Jahre mit der äußerst großzügigen Verwendung der Worte "fuck" (44-mal) und "verdammt" (255-mal) das konservative Mittelstands-Amerika; doch die Geschichte des 16-jährigen Schulversagers Holden Caulfield, rebellischer Sohn aus gutem Hause, der drei Tage fluchend, getrieben von Sehnsucht nach Liebe und ziemlich frustriert über die Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt, durch New York streift, wurde millionenfach verkauft. Sogar mit Goethes Werther wurde dieses Kultbuch für Generationen Jugendlicher verglichen.

Aber auch krude Geister fühlten sich von der Sprachgewalt angesprochen: Der Doppelmörder Charles Manson, Reagan-Attentäter John Hinckley, der Terrorist Theodore Kaczynksi und Lennons Mörder Mark David Chapman: Sie fühlten sich Caulfield seelenverwandt. Salinger selbst äußerte sich dazu nie.

Überwältigt und, wie er selbst bekannte, eingeschüchtert von der Publicity übersiedelte er von New York nach New Hampshire in eine einsame Waldhütte. Am Anfang seines Totalrückzugs veröffentlichte Salinger, der dreimal verheiratet war, noch Kurzgeschichten, vor allem im New Yorker. Hier war 1948 A Perfect Day for Bananafish erschienen, die erste Geschichte um die sieben Kinder der New Yorker Varieté-Familie Glass. Hier veröffentlichte er 1965 mit Hapworth die letzte Geschichte aus diesem Zyklus; ab da schrieb der Einsiedler "nur noch zu meinem eigenen Vergnügen", wie er in einem seiner raren Statements einer Journalistin der New York Times verriet und sich bekümmert über den Raubdruck seiner frühen Geschichten äußerte: "Ich wollte, dass sie eines natürlichen Todes sterben." Im Nichtveröffentlichen liege, so sagte er, "ein wunderbarer Friede". Eigentlich habe er nur noch für sich geschrieben, vermutete Tochter Margaret, weil er Angst vor Kritik hatte. Salinger war, was sein Privatleben anging, äußerst heikel. Er verfolgte sogar Internetseiten, die ihn zu ausführlich zitierten. Er habe seine individuelle Geschichte in sein Werk einfließen lassen, deshalb gehe sein Leben auch niemanden etwas an.

Entsprechend mäßig war seine Begeisterung, als Tochter Margaret im Jahr 2000 ihre Familienerinnerungen unter dem Titel Dream Catcher: A Memoir veröffentlichte und auch viele geheimgehaltene Details aus dem Privatleben des berühmten Vaters erzählte: Er sei sehr liebevoll, aber auch pathologisch selbstsüchtig gewesen, schrieb sie. Sein Arbeits- und Schlafzimmer habe sie jedenfalls nur zweimal in ihrem Leben betreten dürfen.

Kompliziert war auch sein Verhältnis zu seinen Verlegern: Er forderte, dass seine Texte ohne Änderungen veröffentlicht werden mussten. Vor einem halben Jahr kehrte J. D. Salinger in die Öffentlichkeit zurück und klagte einen jungen Autor, der mit 60 Years Later: Coming Through the Rye eine Fortsetzung des Fängers im Roggen verkaufen wollte.

Geboren wurde Salinger am 1. Jänner 1919 als ältester Sohn eines wohlhabenden Lebensmittelhändlers in New York, der koscheren Käse importierte, und einer schottisch-irischen Katholikin, die aus Liebe zu ihrem Mann zum Judentum konvertierte. Salinger war dreimal verheiratet. 

Am Mittwoch starb er 91-jährig in seinem Haus in Cornish. Entsprechend seinem Leben wird er in aller Stille beigesetzt. (Andrea Schurian, DER STANDARD/Printausgabe, 30./31.01.2010)