Mass Effect 2 (Bioware/EA) ist für Xbox 360 und PC erschienen.

Foto: EA
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Menschen, die mit Science-Fiction nichts anfangen können, werden nicht verstehen, weshalb sich Erwachsene verkleidet als Jedi-Ritter oder Klingone zu Filmpremieren oder Conventions in Kilometer lange Schlangen einreihen. Aber die Faszination, die eine fremde Welt ausübt oder die Vorstellung über die Zukunft kann vollkommen vereinnahmen. Der Wunsch, in die Ferne zu reisen und fremde Kulturen kennen zu lernen, ist dem ganz nah. Bei Videospielen kommt dieses Phänomen des Eskapismus ebenfalls zum tragen, doch ist hier die Dichte an wirklich spannend erzählten Fantasien deutlich kleiner. Mit dem start der Mass Effect-Trilogie hat Bioware 2008 den Sci-Fi-Verrückten Spielern die Pforten zu einem ganz besonderen virtuellen Zufluchtsort geöffnet. Dieser Tage ist nun der mit Spannung erwartete zweite Teil erschienen.

Vielschichtig

Zwei Jahre, nachdem Commander Shepard die Invasion der Reaper zurückschlagen konnte, deren Ziel die Zerstörung allen organischen Lebens war, ist ein neuer geheimnisvoller Feind aufgetaucht. An den Grenzen des bekannten Weltraums entführt eine mysteriöse Spezies - die Collector genannt - ganze Kolonien. Um die Menschheit zu retten, muss Shepard mit der zwielichtigen Organisation Cerberus zusammenarbeiten, die zur Rettung der Menschheit auch über Leichen geht.

Hoch gelobt wurde bereits im ersten Teil die vielschichtige und mitreißende Geschichte. ME erschafft eine komplexe Welt aus Aliens und Menschen, aus Verbündeten und Feinden und vergisst dabei nicht, die Feinheiten dieser komplexen Koexistenzen zu zeichnen. Nicht nur die Rettung der Galaxie, auch Liebe, Verrat und persönliche Erfahrungen werden verarbeitet. Als Trilogie baut ME natürlich auf den vorangegangenen Ereignissen auf, weshalb Neueinsteiger von einem schnellen Nachhilfeunterricht bei Wikipedia enorm profitieren. Zwar leidet Shepard selbst an Gedächtnisverlust und begründet somit die artig eingebauten Gedächtnisstützen in den Dialogen, doch besser ist es, man kämpft sich vorher noch rasch durch den ersten Teil. Denn Entwickler Bioware ermöglicht Spielern den Import ihres alten Charakters in die Fortsetzung. Basierend auf den vorangegangen Entscheidungen entfaltet sich so ein - im vorgegebenen Rahmen - individuelles Erlebnis.

"Zwischenmenschlichkeiten"

Um bei der Mission überhaupt eine Chance zu haben, muss sich Shepard im Kapitänssessel des Raumschiffs Normandy auf eine Tour durch das Weltall begeben und ein Team aus Ärzten, Soldaten und sonstigen Spezialisten rekrutieren. Denn der Einsatz der individuellen Fähigkeiten spielt eine wesentliche Rolle. Außerordentlich vereinnahmend kann dabei die Erkundung der Welten werden. Schon bei der Tour durch das eigene Schiff erfährt man jede Menge nützliche, aber auch belanglose aber atmosphärisch bedeutende Informationen über die Charaktere und die Hintergründe zur Mission und spinnt damit aktiv eine glaubhafte Illusion. Neben den erstklassigen englischen Synchronsprechern und dem einfachen Dialogsystem wird die Erzählung durch eine lupenreine Präsentation unterstützt. Von der Kommandobrücke, über einen Nachtklub in einer Raumstation und eine verschneite Basisstation auf einem düsteren Planeten bis hin zu den abermals detailliert ausgearbeiteten Persönlichkeiten lässt kaum ein Szenario Zweifel an der Echtheit dieses Universums. Bioware hat es geschafft, durch ein in sich konsistentes Artdesign ME2 auch optisch und auch dank der stimmungsvollen musikalischen Untermalung seinen Stempel aufzudrücken. Shepards Space-Opera einzigartig ist, würde ein grüner kleiner Kollege aus Star Wars sagen. Die "epischen" Ladezeiten seihen verziehen.

Verschmelzung

Bioware versucht mit dem zweiten Teil eindeutig, eine breitere Masse anzusprechen. Das zieht auch spielerische Konsequenzen nach sich, die vielleicht nicht jedem Rollenspiel-Fan gefallen werden. Zwar darf man nach wie vor Fähigkeiten ausbauen, sich spezialisieren und auch seine Mitstreiter nach Wunsch ausstatten, doch spielt sich ME2 im Grunde wie ein Shooter. Mit dutzenden Waffen und Gefechten wie in Halo ist der Drang zum Zeitgenössischen nicht zu verkennen. Wem Rollenspiele wie Final Fantasy zu statisch sind, wird ME2 als "phaserliche" Überraschung empfinden.

Der taktische Tiefgang und der Schwierigkeitsgrad dürfen allerdings separat geregelt werden, um so den persönlichen Vorlieben besser entsprechen zu können. Der Vorteil an der geringeren Komplexität im Vergleich zu anderen Rollenspielen ist, dass auch Unerfahrene einsteigen können und der Fokus auf die Handlung rückt. Wer aber auch abseits des roten Pfades stapfen möchte wird in den über 30 Stunden des Haupthandlungsstranges ausreichend Gelegenheiten dazu finden - Vergnügungsmöglichkeiten für Erwachsene miteinbegriffen.

Fazit

Mass Effect 2 ist ein fulminanter zweiter Akt. Das Gefühl am Rande der Galaxis vor der Ausrottung zu stehen, ist greifbar. Wer sich in die futuristische Welt und das Szenario einlassen kann, wird selbst nach vier Tagen durchzocken sofort wissen wollen, wie die Reise endet. Wenn es einen Knackpunkt gibt, dann ist es vielleicht die kantenlose Verschmelzung zweier recht unterschiedlicher Genres. Doch sollte man den Herausforderungen beider Gameplays offen gegenüberstehen, wird man ein umso vielschichtigeres Erlebnis genießen, dessen Illusionen unvergesslich sind.

(Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 31.1.2010)