Am Elitegymnasium Canisius-Kolleg wusste die Ordensleitung angeblich schon seit 1991 von den Missbräuchen.

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Berlin - Der Missbrauchs-Skandal am Berliner Elitegymnasium Canisius-Kolleg ist weitaus größer als bisher angenommen. Während die Berliner Justizbehörden bisher von sieben sexuell missbrauchten Buben ausgingen, meldeten sich übers Wochenende Medienberichten zufolge mehr als 20 Opfer. Zudem war die Ordensleitung offenbar seit 1991 über die Vorfälle informiert. Einer der beiden beschuldigten Lehrer gab die Taten inzwischen zu. In einem anderen Fall räumte das Erzbistum Berlin Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs gegen einen Priester ein. Es habe auch Fälle in Hamburg, St. Blasien, Göttingen, Hildesheim, Chile und Spanien gegeben. Das sagte der Ordenschef in Deutschland, Provinzial Stefan Dartmann, am Montag. Zugleich entschuldigte er sich bei Opfern, Lehrern und Eltern für das jahrelange Schweigen. "Ich bitte um Entschuldigung für das, was von Verantwortlichen des Ordens damals an notwendigem und genauen Hinschauen und angemessenem Reagieren unterlassen wurde."

An dem Berliner Gymnasium wurden von 1975 bis 1983 mindestens 22 Kinder und Jugendliche missbraucht. Täter waren nach Angaben des Ordens zwei Patres, die als Lehrer arbeiteten. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft die Missbrauchsfälle. "Es spricht aber vieles dafür, dass die Taten verjährt sind", sagte Behördensprecher Martin Steltner. Das betreffe auch etwaige Vorwürfe an den Jesuiten-Orden wie Strafvereitelung oder unterlassene Hilfeleistung. 

Dartmann schloss nicht aus, dass noch weitere Missbrauchsfälle bekanntwerden. "Ich bin sicher, wenn Sie nur weit genug zurückgehen in den Akten, würden Sie etwas finden." Der Ordenschef und Canisius-Rektor Klaus Mertes kritisierten den rein internen Umgang des Ordens mit den Fällen. Heute würde er auch Polizei und Staatsanwaltschaft informieren, sagte Dartmann. Damals zeigten weder die Jesuiten noch der Vatikan die Täter an. Sie wurden nach den Vorwürfen meist nur an andere Orte versetzt.

Sportlehrer

Laut "Spiegel" handelt es sich bei einem der mutmaßlichen Täter am Canisius-Kolleg um den früheren Sportlehrer und Jesuitenpater Wolfgang S., der die Missbrauchsvorwürfe bereits einräumte. Der Mann trat demnach 1992 aus dem Orden aus. Zuvor soll er laut "Spiegel" auch an anderen Jesuitenschulen in Deutschland Buben missbraucht haben. Wolfgang S. arbeitete als Deutsch-, Religions- und Sportlehrer von 1975 bis 1984 an Jesuiten-Schulen in Berlin, Hamburg und St. Blasien im Schwarzwald. Danach ging er für den Orden nach Spanien und Chile.

1991 gestand er der Kirchenleitung seine Taten gegen "Zusicherung der Diskretion", weil er aus dem Orden ausscheiden wollte. Laut diesem Geständnis kam es auch zu Missbrauchsfällen in Hamburg und St. Blasien. Dartmann sagte zudem: "Es gibt klare Hinweise in den Akten, dass er bis 1990 auch in Chile und Spanien übergriffig geworden ist." Es habe sich um "exzessive körperliche Bestrafungsrituale" gehandelt.

Stefan Dartmann bestätigte auch im "Spiegel", dass der Orden 1991 Kenntnis von den Straftaten hatte. Man habe jetzt eine Anwältin mit einer Prüfung der Akten beauftragt, "um festzustellen, was genau die Jesuiten damals wussten und welche Konsequenzen erfolgten". Auch der Vatikan war über die Verfehlungen im Bilde, wie der "Spiegel" weiter berichtet. Lehrer S. habe dort "Zeugnis von meiner nichts beschönigenden Ehrlichkeit" abgelegt.

Mehrere Schüler meldeten sich bereits

Bei dem zweiten Beschuldigten handelt es sich laut "Spiegel" um den 69-jährigen ehemaligen Religionslehrer Peter R. aus Berlin. Im Gegensatz zu S. habe dieser sämtliche Vorwürfe bestritten. Laut "Spiegel" meldeten sich bereits rund 20 ehemalige Schüler, die von sexuellen Übergriffen berichteten. Der "Tagesspiegel am Sonntag" meldete gar 22 Opfer.

Peter R., arbeitete von 1972 bis 1981 als Religionslehrer und Jugendseelsorger an dem Berliner Gymnasium, später in Göttingen in der Jugendarbeit, als Seelsorger in Hildesheim (beides Niedersachsen) und beim dortigen Bischof. "Wann der Missbrauch anfing, wissen wir nicht", sagte Dartmann. 1981 suchten Berliner Schüler in einem offenen Brief an die Schule und die Kirche indirekt Hilfe und kritisierten besonders eine verfehlte Sexualpädagogik. Ende der 80er Jahre gab es laut Dartmann Hinweise auf zurückliegende Übergriffe auf Mädchen in Göttingen. Als er in Hildesheim arbeitete, beschwerte sich eine Mutter über die Belästigung ihrer Tochter.

Gymnasiumsrektor kritisiert Kirche

Der amtierende Rektor des Gymnasiums, Pater Klaus Mertes, kritisiert seine Kirche im "Tagesspiegel am Sonntag" scharf. "Homosexualität wird verschwiegen. Kleriker mit dieser Neigung sind unsicher, ob sie bei einem ehrlichen Umgang mit ihrer Sexualität noch akzeptiert werden." Der Beauftragte der Bischofskonferenz bei der deutschen Bundesregierung, Prälat Karl Jüsten, lobte Mertes ausdrücklich dafür, "dass er sich offensiv um Aufklärung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bemüht und sogar riskiert, den Ruf des Gymnasiums zu beschädigen".

Das Erzbistum Berlin teilte mit, dass dem Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky Anfang Juli 2009 Beschuldigungen und Verdächtigungen gegen einen Priester vorgetragen worden seien. Diese bezögen sich auf das Jahr 2001. Dem Gemeindepfarrer seien daraufhin umgehend alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Jugendlichen untersagt worden. Das Verfahren sei in Rom anhängig und noch nicht abgeschlossen. Der Priester sei derzeit nicht seelsorgerisch tätig. Das Opfer wurde demnach aufgefordert, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen. Weitere Opfer wurden gebeten, sich zu melden.

"Das, was viele befürchtet haben, hat sich bewahrheitet", sagte der Hamburger Bistums-Sprecher Manfred Nielen am Montag. Dort hätten sich zwei ehemalige Schüler der Sankt-Ansgar-Schule gemeldet, die Opfer des Jesuitenpaters wurden. Schüler des Kollegs in St. Blasien wurden am Montag auf einer kurzfristig einberufenen Schülerversammlung über die Vorgänge informiert.

Untersuchungsbericht

Bis Mitte Februar soll ein Untersuchungsbericht erstellt werden. Der Jesuitenorden beauftragte Ursula Raue, lange Jahre Vorsitzende der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" (Unschuld in Gefahr), mit Ermittlungen. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte ihre Prüfungen selbst eingeleitet. Strafanzeigen habe es nicht gegeben, sagte Steltner. Der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Georg Ehrmann forderte in der "Welt" (Dienstag), die Verjährungsfrist für Sexualdelikte an Kindern zu verlängern. (APA/apn)