Wien - Sie hat ein Innen und ein Außen, die Zauberschachtel der Bühne. Und selbst wenn sie sich üblicherweise nach einer Seite hin zum Publikum öffnet, bleiben noch fünf, die ihr Geheimnis bewahren. Das neue Stück the mystery box (der Haufen) von Milli Bitterli, einer der Fixsterne der Wiener Choreografie, macht diese Schachtel auch von einer imaginären siebenten Seite her auf.

Diese siebente Seite ist der Inhalt, die Box in der Box, in diesem Fall die Tänzerin, die als menschliche Bühne aus der architektonischen fällt. Deren Erscheinung sich aufklappt und etwas hinschüttet: Auftritte, Bilder, Bewegungen, Sätze und Geschichten. So leicht ist Milli Bitterli in ihrer Geste des Ausschüttens, dass sie die Schwerkraft der großen Erzählungen (ja, es darf an Jean-François Lyotard gedacht werden) so schlicht wie ergreifend aufhebt. Die Dramen von Tod und Trieb, Konkurrenz und Kabale, die der Bühne als Menetekel der gesellschaftlichen Gemeinheiten eingeschrieben sind, häufen sich an, gehen über - eine Grenze, die eine andere Wirklichkeit verspricht.

Bevor Bitterli die Bühne betritt, klappert und rasselt es von außerhalb, und die zum Publikum hin offene Seite der Bühne ist noch leer. Die Tänzerin erscheint als Cowboy, der sich selbst in seinen Auftritt einreitet und behauptet, er sei ein alter Tisch in einer Universität, ein Holz, das auf den Boden des Meeres sinkt. Und in diesem Satz stülpt sich das Holz aus, formt eine Frau, die Lippenstift trägt und sich Bilder anschaut.

Dieser Satz macht ein Fass auf, eben diese siebente Seite der Bühne, aus der Sprachbilder purzeln. Bitterli verwandelt sich in eine integre Hosenanzugträgerin, die einen Zapfen an der Bühnendecke beschwört, der auf die Erde schaut und denkt: "Oj, oj, oj!" Elemente des automatischen Schreibens, Reminiszenzen an den Surrealismus wuchern auf der Bühne, Assoziationsketten werden gesprochen, geflüstert und getanzt.

An dieser das Premierenpublikum im Wiener Brut bestrickenden Zauberschachtel haben gewichtige Mitautoren gebaut: die US-Choreografin Jennifer Lacey, Silke Bake, Sabine Maier und Michael Mastrototaro aka Machfeld sowie der Künstler Jack Hauser und die Performerin Sabina Holzer. Mit Bitterli ein siebenköpfiger Haufen elaborierter Mitstreiter, die der Box ihre siebente Seite wie einen siebenten Sinn zusprechen.

Aus diesem heraus ist die mystery box ein schweres Teil, denn hier wird angehäuft, um einen Damm zu dichten, der in der Gegenwartsgesellschaft zu brechen droht. Bitterli spricht am Ende vom "Schleim und Schlatz" des Mittelmeers, von Eiter und schlechten Ärzten. Von Entzündungen. Vom Sichwegdenken. Es ist leicht, sich vorzustellen, was sie damit meint, ohne das Schicksal der Bootsflüchtlinge, ohne Strache und Fekter direkt anzusprechen: unsere Haltung in Zeiten einer politischen Krise. (Helmut Ploebst/DER STANDARD, Printausgabe, 1. 2. 2010)