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Die kleinen, oft etwas schmuddelig wirkenden Drogerie-Läden sind oft nur mit einer Mitarbeiterin besetzt, die dem Alltag ausgeliefert ist, ohne Telefon, aber mit umfassender Verantwortung ausgestattet.

Foto: AP/Hermann J. Knippertz

Begonnen hat es mit der naiven Idee, eine Schlecker-Mitarbeiterin zu interviewen. Die Kassiererin kniet vor einem Regal und schlichtet am Sortiment. Zwei Kunden sind im hinteren Teil des Ladens. Ich grüße, knie mich neben die Angestellte und frage mit gedämpfter Stimme: "Kann ich Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?" Was folgt, lässt mich zusammenzucken. Die Dame fährt mich schreiend an: "Kommt darauf an, welche."

Ich bleibe ruhig und erkläre ihr, ich würde Sie gerne interviewen. Anonym natürlich. "Nein", bellt sie lautstark zurück, während sie direkt in die Videokamera über ihrem Kopf schaut. Die beiden Kunden starren jetzt reglos in unsere Richtung, die Hände fest an ihren Einkaufswägen. Ich fühle mich wie ein Ladendieb. "Danke", sage ich noch und frage mich in der gleichen Sekunde, wofür. Sie hat Angst, geht es mir durch den Kopf, während die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Und: Wenn die Angestellte nicht nach außen gehen will, muss ich eben rein.

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"Keine Erfahrung im Verkauf?" "Keine", antworte ich wahrheitsgemäß. "Haben Sie einen Lebenslauf mit?" Michaela Römer* fragt forsch, aber freundlich. Sie ist Bezirksleiterin und "Herrin" über 22 Schlecker-Filialen. Mit meiner Karriere ist es laut Papier nicht weit her. Hauptschulabschluss, ein Jahr Polytechnikum, keine weitere Ausbildung. Nach Zeugnissen fragt R. nicht. Nur eine Meldebestätigung, zwei Passbilder und ein polizeiliches Leumundszeugnis soll ich nachbringen.

Mein Gehalt? 492 Euro brutto für 16 Wochenstunden, macht 412 Euro netto. Klingt nicht viel, liegt aber laut Gewerkschaftsangaben sogar ein klein wenig über dem gesetzlichen Kollektivvertrag für Handelsangestellte.

Noch bevor ich als Kassiererin beginne, habe ich eine Vorstellung von den Arbeitsbedingungen bei Schlecker: Die kleinen, oft etwas schmuddelig wirkenden Drogerie-Läden sind meist nur mit einer Teilzeit-Mitarbeiterin besetzt, die dem Alltag ausgeliefert ist, ohne Telefon, aber mit umfassender Verantwortung ausgestattet und stets mit dem Risiko vor Augen, dass ein Testkäufer oder Kontrolleur hereinkommen und die Lage inspizieren könnte.

Kassieren, putzen, räumen

Meine Filiale ist noch kleiner, als ich es mir vorgestellt habe. Die Nacht über hat es geschneit, Straßenbahnen und Busse weggeweht und ich bin an meinem ersten Arbeitstag um einige Minuten zu spät. Nicht der beste Einstieg, das ist mir klar. Die Filialleiterin, Erna Wedenig*, nimmt meine Entschuldigung zur Kenntnis und stellt mich meiner Kollegin vor. Es überrascht mich nicht, dass sie das Thema dann doch noch aufnimmt: "Pünktlichkeit, Sauberkeit und Freundlichkeit sind das Wichtigste." Das gibt es auch schriftlich - an der Innenseite der Bürotür klebt ein vergilbtes Plakat: Freundlichkeit gegenüber den Kunden ist unser oberstes Gebot. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild, das ein freundlich-harmlos wirkendes Ehepaar Schlecker zeigt. Er, Anton, im Countryhemd und schwarzen Jackett, Christa im adretten Kostüm mit weißer Bluse, beide lächeln, beide blicken starr. Vergleicht man Archivbilder, dürften die zwei in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr gealtert sein.

Mein erstes Einsatzgebiet: Sortiment sichten. Die Filiale ist tipptopp geputzt, die Artikel stehen stramm gereiht an ihren Plätzen. Etikett nach vorne." Alles muss schön gespiegelt sein", erklärt mir W. das strenge Regiment in den Regalen. "Wenn gerade kein Kunde da ist, wische ich schnell die Shampooflaschen mit Glasreiniger ab oder Staub weg."

Auf Reinigungsfirmen verzichtet Schlecker gänzlich. Fürs Toiletten-Putzen, Bodenwischen und Schaufensterwaschen sind die Mitarbeiter zuständig. Punkt eins im Dienstvertrag hält fest: "Der Arbeitnehmer wird mit allen in der Verkaufsstelle anfallenden Arbeiten, einschließlich Inventur- und Reinigungsarbeiten, nach näherer Anweisung der Firma bzw. des Vorgesetzten beschäftigt."

Zweites Wohnzimmer

Neun Jahre arbeitet W. bereits hier, die Arbeit hat sie zur Chefsache erklärt. "In meinem Wohnzimmer ist es ja auch sauber, warum soll es hier nicht so sein?" Demonstrativ schnappt sie sich ein Stück Küchenrolle und wischt Schmutz vom Boden auf. "Wenn kein Kunde da ist, gehst du schnell mit dem Besen durch." Dass sie mich plötzlich duzt, irritiert mich, weil es eine pseudo vertraute Situation schafft, die mir unangemessen erscheint. Um Distanz zu bewahren, bleibe ich konsequent beim "Sie".

Über manche Preisschilder sind transparente Schildchen gelegt. "Grün heißt, dass wir davon noch Ware im Lager haben, gelb heißt, dass die Haltbarkeit bald abläuft", klärt mich W. auf, während sie einige Tafeln Schokolade nach ihrem Ablaufdatum schlichtet. Die frischesten kommen nach hinten.

Eine Pause gibt es erst nach sechs Stunden, sagen die Vorschriften. Für mich gibt es demnach keine, denn länger als sechs Stunden dauert meine Arbeit nie. Noch schmerzlicher als das Magenknurren trifft mich das strenge Rauchverbot selbst vor der Filiale. Zeitweise fühle ich mich wie auf einem Langstreckenflug. "Da machen wir keine Ausnahme, nimm dir halt ein Zuckerl mit", versucht mir W. beizustehen. "Ich sag dir, wenn eine Kontrolle kommt... die haben Nasen, die riechen alles."

Ganz nebenbei werde ich angewiesen, mein Handy stets bei mir zu tragen. Ob es denn kein Telefon in der Filiale gebe, frage ich nach. "Doch, aber das funktioniert nur für leitstelleninterne Nummern." Und - so erfahre ich später - bei Notrufen wie Polizei oder Rettung. Ansonsten gilt: Wird jemand krank oder soll für einen anderen einspringen, verständigt man sich übers private Mobiltelefon . "Ich bin rund um die Uhr erreichbar, fügt W. hinzu. "Du kannst mich immer anrufen."

"Holen Sie sich den Kassaschlüssel", begrüßt mich W. am nächsten Tag. Sie blickt mich kaum an, siezt mich wieder und ist kurz angebunden, während sie sich mit der anderen Teilzeit-Mitarbeiterin angeregt unterhält. Einen Moment fürchte ich, sie hat mich enttarnt. "Von wo?" frage ich. Kurzes Schweigen. "Am Schreibtisch, wo sonst." Ein Kunde betritt das Geschäft, W. 'spiegelt' Artikel im Gang mit den Kosmetika und Rasierklingen oder tut zumindest so. "Diesen Gang darf man nie aus den Augen lassen, hier stehen die teuersten Waren", bläut sie mir mehrmals ein. In der Filiale gibt es weder Videokameras, noch Spiegel, noch Sicherheitseinrichtungen an der Tür.

Schlecker im Fernsehen

Nach wenigen Stunden Berufserfahrung bin ich bereits großteils auf mich gestellt, versuche Gänge und Kunden zu beobachten, zu kassieren, Waren auf ihr Ablaufdatum zu prüfen und an ihren Platz zu stellen. "Gestern war der Anton Schlecker im Fernsehen", flüstert mir eine Kundin über das Kassa-Fließband zu. Sie wirkt, als ob sie ein Geheimnis loswerden will. "Und?" frage ich, bekomme aber keine Antwort. Die Frau verdreht nur die Augen, zahlt und geht.

W. legt mir meinen Dienstplan für die kommende Woche vor. Die Arbeitstage ändern sich wöchentlich, stehen aber schon zwei bis drei Monate im Voraus fest, Überstunden werden mit Zeitausgleich abgegolten. W. als Vollzeitkraft darf keine Überstunden machen.

"Am Samstag arbeitest du allein." W. hat wieder zu ihrem "du" zurückgefunden. "Das geht schon. Das Anmelden in der Früh und den Kassaschluss üben wir bis dahin drei Mal, andere Filialen machen das nur zwei Mal." Ich muss schlucken, was sie missinterpretiert. "Wenn du aufs Klo musst, sperrst du ab und hängst das Schild an die Tür." Hinter der Kassa kramt sie ein Stück Papier in Klarsichtfolie hervor. Komme gleich, lese ich. "Rennst halt schnell nach hinten, beeilst dich aber."

Misstrauen

Der Einkauf für den Eigenbedarf im Laden erfordert einen beachtlichen logistischen Aufwand. Als W. mit einer Mineralwasserflasche bei der Kassa auftaucht und zahlt, unterschreibe ich den Kassabon, notiere darauf verschiedene Vermerke, kritzle meine Unterschrift gemeinsam mit dem Nummerncode des Kassabons auch auf die Flasche, und klebe die Rechnung abschließend noch auf ihr fest. Viel Vertrauen dürfte Schlecker in seine Mitarbeiter nicht haben.

Nach der Abrechnung am Abend trage ich den Geschäfts-Umsatz in ein Heft ein, addiere die Zahl der Kunden mit der gestrigen, rechne die Höhe des durchschnittlichen Einkaufs aus. Alles in allem nicht ganz einfach mit einem Taschenrechner, auf dem einige Tasten so abgegriffen sind, dass man die Zahlen nicht mehr sieht. Im Büro dürfen ausschließlich schwarze Kugelschreiber verwendet werden. Warum das so ist, weiß W. nicht. "Das ist halt so."

Draußen ist es dunkel. Wir gehen noch ein Stück gemeinsam.

Am nächsten Tag kündige ich, gleichzeitig unterschreibe ich meinen Dienstvertrag. Zum ersten Mal sehe ich die Vereinbarungen, die darin festgehalten sind: Unter anderem ist Schlecker berechtigt, den Arbeitnehmer in einer anderen Verkaufsstelle einzusetzen, eventuelle Gehaltsüberzahlungen sind der Firma unaufgefordert zurückzuerstatten und der Arbeitnehmer ist mit dem Urlaubsverbrauch während der Kündigungsfrist ausdrücklich einverstanden.

In Internet-Foren, wo sich Schlecker-Mitarbeiter austauschen, ist immer wieder von "Willkür" seitens des Unternehmens, "Schikanen" und "Sklaverei" die Rede. Derlei Missstände musste ich nicht erleben; wenn es sie gibt, so offenbar nicht flächendeckend. Praktiken, die aus dem Arsenal finsterer Mächte stammen, konnte ich in beschriebener Filiale jedenfalls nicht beobachten, triste Arbeitsbedingungen samt einer gehörigen Portion Verantwortung schon.

* Namen von der Redaktion geändert. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 2.2.2010)