Mitteleuropäische Architektur, mitteleuropäische Lebensart: Fischsuppen-Fest in der südungarischen Stadt Baja.

Foto: Josef Kirchengast

Catherine Horel: "Bald werden Slowaken und Tschechen nur noch auf Englisch miteinander reden."

 

 

Foto: Matthias Cremer

Mitteleuropa - mehr als eine Spielwiese für Intellektuelle und Habsburg-Nostalgiker? Mit der französischen Historikerin und Buchautorin Catherine Horel sprach Josef Kirchengast.

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STANDARD: Was würden Sie zu folgender Definition sagen: Mitteleuropa ist dort, wo man weiß, was Palatschinken sind?

Horel: (lacht) Ja, das wäre eine erste Definition, weil diese kulinarische Welt auch etwas bedeutet hat. Überall in der Habsburger-monarchie gab es praktisch die gleichen Speisekarten, ob in Budapest, Zagreb oder anderen Städten. Aber zugleich wurden Speisen wie etwa Gulyás bei gleichem Namen über die Grenze zu einem anderen Gericht.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch - auf Deutsch etwa "Dieses Europa, das man Mitteleuropa nennt" - begrenzen Sie die Region geografisch auf die ehemalige Monarchie. Wird man dem Begriff Mitteleuropa mit einer geografischen Eingrenzung gerecht?

Horel: Jein. Geografen haben ganz andere Definitionen vorgeschlagen, auch abhängig von ihrem jeweiligen Standort. Ein französischer Geograf hat nicht dieselbe Definition wie ein deutscher. Ich wollte die Region nicht so betrachten, wie dies bei der Friedenskonferenz von 1919 geschehen ist, sondern mehr als einen kulturellen Begriff.

STANDARD: Hätten Sie selbst eine knappe Mitteleuropa-Definition?

Horel: Das Mitteleuropa, das ich in meinem Buch betrachte, ist zuerst die ehemalige Habsburgermonarchie. Selbstverständlich wird diese Definition nach dem Ersten Weltkrieg erweitert, zum Beispiel durch Polen. Andererseits aber auch reduziert. Denn Jugoslawien ist nicht oder nicht nur, oder nicht ganz, oder auf andere Art Mitteleuropa. Polen kommt dazu, Kroatien und Slowenien kommen ein bisschen abhanden. Die Grenzen haben sich bewegt: Einmal war Mitteleuropa im Zentrum, dann wieder am Rand, dann mehr im Westen, dann mehr im Osten, einmal am Rand des Westens, dann am Rand des Ostens, und jetzt liegt es wieder im Zentrum.

STANDARD: Mitteleuropa wurde immer wieder politisch und auf andere Art instrumentalisiert, im Kalten Krieg etwa von Künstlern und Intellektuellen im Ostblock, die darin eine Möglichkeit sahen, ihren Freiraum auf politisch unverdächtige Art zu erweitern. Kann man Mitteleuropa auch heute noch politisch instrumentalisieren?

Horel: Ein erstes Mal wurde Mitteleuropa in der Zwischenkriegszeit instrumentalisiert. Da wurde es ein deutsches Projekt. Und so wird es in Deutschland teilweise bis heute verstanden. Das ist nicht die französische ...

STANDARD: ... und auch nicht die österreichische Definition.

Horel: Wir sind also beide einverstanden, dass es ein Mitteleuropa ohne Deutschland sein soll. Dann, in der kommunistischen Periode, wurde Mitteleuropa ein subversives Projekt. Da haben die Dissidenten ganz bewusst Mitteleuropa nicht instrumentalisiert, sonder wieder aktuell machen wollen. Indem sie sagten, wir gehören nicht dem Osten, wir gehören zu einem anderen Raum, der auch nicht ganz im Westen liegt, und das wäre eben die ehemalige Habsburgermonarchie. In den 1980er-Jahren wurde Mitteleuropa vom Westen instrumentalisiert, nicht unbedingt, um die Ost-West-Beziehungen zu vereinfachen. Da gab es diese berühmte Habsburg-Nostalgie. Dass man Mitteleuropa heute instrumentalisiert, glaube ich nicht. Allenfalls, wenn es um Kroatiens baldigen EU-Beitritt geht.

STANDARD: Als Österreich nach der EU-Osterweiterung die sogenannte regionale Partnerschaft lancierte, wurde in den Nachbarländern zumindest unterschwellig der Verdacht geäußert, Wien wolle unter diesem Deckmantel alte imperiale Gelüste wiederaufleben lassen.

Horel: Österreich wird überall in der Region positiv gesehen. Ich glaube nicht, dass die betreffenden Politiker damit Erfolg hätten, wenn sie Österreich als potenzielle hegemoniale Gefahr in der Region darstellten. Das nutzt allenfalls ganz konkreten, punktuellen politischen Zwecken. Aber ich nehme das nicht ernst.

STANDARD: Emil Brix, der scheidende Leiter der kulturpolitischen Abteilung im österreichischen Außenministerium und künftige Botschafter in London, meinte bei der Präsentation Ihres Buches in Wien, die gescheiterten Versuche, in der EU gemeinsame mitteleuropäische Interessen zu vertreten, seien der Beweis dafür, dass die Region eben kein politischer Machtfaktor ist.

Horel: Kein Machtfaktor, aber ein kultureller und historischer Faktor. Diese Länder haben ihre eigenen Interessen und Ziele und wollen nicht unbedingt auf den mitteleuropäischen Raum reduziert werden. Das war ganz deutlich bei den Tschechen, wie sie die Visegrád-Gruppe (mit der Slowakei, Ungarn und Polen, Anm.) immer wieder sabotiert haben. Herr Klaus (tschechischer Präsident) sagte: Wir wollen nach Westen, wir brauchen diese Spielzeuge nicht. Andere Politiker der Region äußerten sich ähnlich. Sie wollen nicht mehr ein regionaler Subkontinent Europas sein.

STANDARD: Vermutlich auch eine Frage der nationalen Emanzipation.

Horel: Absolut.

STANDARD: Brix spricht auch von einem Sehnsuchtsbegriff. Der slowenische Schriftsteller Drago Janèar meint, Mitteleuropa sei keine Ideologie und könne daher auch nicht untergehen (siehe "Zitiert").

Horel: Ich stimme zu: Genau deshalb hat es gute Überlebenschancen. Die Habsburgermonarchie hatte keine Ideologie. Sie war dynastisch. Punkt.

STANDARD: Sie sagen, ein bestimmendes Element der mitteleuropä-ischen Identität sei die starke Betonung des Schicksals, also von Niederlagen und Opfern. Darauf aber könne man schwer etwas Zukunftsweisendes aufbauen. Hat Mitteleuropa mehr Geschichte, als es verdauen kann, oder konsumiert es nur die falsche Geschichte?

Horel: An beidem ist was dran. Man erzählt zu viel von der falschen Geschichte, oft übertrieben, oft instrumentalisiert - siehe etwa Trianon (Friedensvertrag von 1920, Anm.) in Ungarn. Man sollte weniger Geschichte bringen, aber dafür die gute. Es bedarf einer neuen Geschichtsschreibung, wo man weg von den nationalen Projekten geht und die ehemalige Gemeinschaft evaluiert, ohne in nostalgische Träume zu verfallen. Und sich wieder mit den anderen Geschichtsschreibungen der Region auseinandersetzt. Das machen nicht alle. Ein gewichtiger Grund dafür ist leider, dass die deutsche Sprache verschwindet. Die jüngere Generation von Historikern, die über das 20. Jahrhundert forscht, kann fast kein Deutsch mehr. Das ist ein Problem.

STANDARD: Englisch als neue Lingua franca, also Verkehrssprache der Region, ist dafür nicht geeignet?

Horel: Absolut nicht. Nicht nur wegen des Quellenstudiums. Die Studenten lernen nur Englisch, kein Deutsch mehr und auch nicht die Sprache der Nachbarn.

STANDARD: Letzteres trifft leider auch auf Österreich stark zu.

Horel: Das ist eben nicht modern. Wieso soll ich als slowakischer Student Ungarisch lernen? Was kümmert mich das? Ich gehe nach Amerika oder England, ich gehe eventuell auch nach Deutschland studieren, aber auf Englisch. Bald werden Slowaken und Tschechen nur noch auf Englisch miteinander reden. Wenn heute ein serbischer Politiker im slowenischen Fernsehen spricht, gibt's Untertitel. Die jungen Slowenen lernen nicht mehr Serbokroatisch, nur noch Slowenisch und Englisch. Man glaubt, reicher zu sein - aber in Wahrheit wird man ärmer dadurch. ZUR PERSON: Die Mitteleuropa-Spezialistin Catherine Horel ist Universitätsprofessorin und Forschungsdirektorin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS, Universität Paris-I). Ihr neuestes Buch, "Cette Europe qu'on dit centrale. Des Habsbourg à l'intégration européene 1815-2004" (Beauchesne), soll bald auf Deutsch erscheinen. Foto: Cremer Mitteleuropäische Architektur, mitteleuropäische Lebensart: Fischsuppen-Fest in der südungarischen Stadt Baja. Foto: Kirchengast " Bald werden Slowaken und Tschechen nur noch auf Englisch miteinander reden. Catherine Horel "