Haben wir zu viele oder zu wenige Ärzte? Und wie wird sich die Situation in den nächsten Jahren ändern? Grazer Forscher haben ein Tool entwickelt, mit dem man Szenarien simulieren kann.

Foto: Martin Fuchs

Grazer Forscher haben ein Simulationsmodell entwickelt, um die hochkomplexen Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Es ist schon verwirrend: Da werden auf der einen Seite jährlich zahllose Bewerber von den österreichischen Medizin-Universitäten wegen fehlender Studienplätze abgewiesen, auf der anderen Seite schicken süddeutsche Kliniken Headhunter nach Österreich, um Fachärzte anzuwerben. Ganz zu schweigen von den Wartezeiten auf einen Termin beim Radiologen oder Gynäkologen.

Haben wir nun zu viele oder zu wenige Ärzte? Und wie wird die Situation in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aussehen? Immerhin wächst die Zahl alter Menschen in unserer Gesellschaft rasant und damit vermutlich auch der Bedarf an ärztlichen Leistungen. Oder bewirkt der medizinische und medizin-technische Fortschritt gerade das Gegenteil, und wir sind tatsächlich immer weniger auf ärztliche Hilfe angewiesen? Und welche Auswirkungen haben die Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich?

Um hier stichhaltige Antworten geben und künftige Szenarien realitätsnah durchspielen zu können, kommt man mit klassischen Pro-gnosetechniken nicht weit. Da- zu ist unser Gesundheitssystem schlicht zu komplex. Das Problem will nun ein Kooperationsprojekt der TU Graz und der Steiermärkischen Krankenanstalten Gesellschaft m.b.H. (KAGes) lösen.

Sozio-technische Systeme

"Unser Ansatz", erläutert Ko-Projektleiter Siegfried Vössner vom Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik der TU Graz, "basiert auf der Denkschule der 'System Dynamics', in der es um die Modellierung hochkomplexer Systeme geht." Kennengelernt hat er die sozio-technische Systemmodellierung an der kalifornischen Stanford University, wo man sie Mitte der 1990er-Jahre etwa zur Modellierung von Abrüstungsszenarien einsetzte.

Seit drei Jahren nutzt er dieses Know-how gemeinsam mit dem Mediziner Gerhard Stark, um die vielschichtigen Zusammenhänge in unserem Gesundheitssystem transparent zu machen. "Wir liefern mit unseren Modellierungen und Simulationen keine fertigen Lösungen – das ist die Aufgabe der Politik", betont Vössner. "Aber wir können zeigen, was passiert, wenn dieser oder jener Umstand eintritt bzw. bestimmte Maßnahmen gesetzt werden."

Um eine Abstraktionsebene zu finden, die nicht zu detailliert ist, aber trotzdem noch quantitative Aussagen zulässt, haben die Forscher das Gesundheitssystem in vier Module gegliedert, die mit Daten der Statistik Austria und der KAGes gespeist werden. Als Input für das "medizinische Bedarfsmodul" dienen etwa Bevölkerungs-, Sterbe- oder Erkrankungsdaten, aus welchen die Summe an medizinischen Leistungen pro Leistungstyp und Jahr ermittelt wird.

Dieses wiederum dient als Datenbasis für das "Ärzteleistungs-Bedarfsmodul". Hier wird durch eine Verknüpfung von Behandlungsdauer je Erkrankung, dem Fortschritt in der jeweiligen Behandlungsmethode usw. die Zahl der benötigten medizinischen Fachleute ermittelt. Auf der anderen Seite wird im "Ärzteleistungs-Angebotsmodul" das vorhandene Personal vom Studenten bis zum fertigen Facharzt erfasst.

Vorausdenken

Dabei werden Einflussfaktoren wie Arbeitszeitgesetze, Ausbildungsplätze und Ausbildungsdauer berücksichtigt. Die generierten Bedarfs- und Angebots-Szenarien werden einander schließlich im "Vergleichsmodul" gegenübergestellt, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. "Durch die langen Ausbildungszeiten von rund neun Jahren vom fertigen Medizinstudenten bis zum Facharzt muss man auf Veränderungen schon weit im Voraus reagieren", betont Siegfried Vössner. "Mit diesem Modell ist es möglich, zukunftsweisende Entscheidungen zu simulieren und kritische Auswirkungen vorab zu erkennen."

Als Modellierungstechnik haben die Forscher unter anderem die sogenannte "Agent Based Modellierung" (ABM) eingesetzt, mit der aus dem Gesamtsystem jedes einzelne Individuum herausgegriffen und modelliert werden kann. "Dieser Bottom-up-Ansatz eignet sich besonders gut für Systeme, in denen Menschen eine zentrale Rolle spielen", erklärt Projekt-Mitarbeiter Andreas Martischnig, der das innovative Modell im Rahmen seiner Dissertation entwickelt hat.

"Es zeigte sich unter anderem, dass der Bedarf etwa an Internisten sehr stark steigen wird", berichtet Siegfried Vössner über erste Ergebnisse. "Um darauf adäquat zu reagieren, muss schon jetzt gegengesteuert werden."

Weniger Darmkrebsfälle

Überraschend waren die Erkenntnisse zum Darmkrebs, der zweithäufigsten Tumorerkrankung in Österreich: So konnte mittels Modellierung gezeigt werden, dass trotz einer Zunahme der Generation 60 plus um 54 Prozent bis 2030 kaum mehr Fachärzte speziell für diese Patienten gebraucht werden. "Zunächst glaubten wir an einen Fehler", sagen die Simulationsexperten, "doch bei der Analyse zeigte sich, dass die geburtenstarken Jahrgänge zum fraglichen Zeitpunkt bereits im Vorsorgezyklus sind und die Neuzugänge keine große Steigerung bewirken."

Zudem fanden die Forscher heraus, dass es kaum Todesfälle durch Darmkrebs geben wird, wenn 70 Prozent der Bevölkerung statt wie gegenwärtig nur 45 Prozent regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Welche Konsequenzen solchen Erkenntnissen folgen, wird die Politik zu entscheiden haben. Angesichts der angespannten Finanzlage unseres Gesundheitssystems ist jedenfalls zu erwarten, dass die verschiedenen Modellierungen eine wesentliche Rolle bei der Verteilung der Ressourcen spielen werden. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 03.02.2010)