London - Drei Monate vor den Wahlen in Großbritannien steckt die Opposition in einer schweren Krise. Eine Serie unglücklicher Wahlkampfmanöver haben den Vorsprung der Tories in den Umfragen von früher über 15 Prozent auf sieben Prozentpunkte schrump-fen lassen. Im britischen Mehrheitswahlrecht würde das nicht für einen Wahlsieg reichen.
Immer öfter wird in britischen Medien daher über eine Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten spekuliert. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Großbritannien kein Bündnis mehr regiert. Die Wahlen finden voraussichtlich am 6. Mai statt.
Am Donnerstag wurde in London zudem der Prüfbericht zum Spesenskandal im britischen Unterhaus präsentiert. Demnach werden an die Parlamentarier Rückforderungen in einer Gesamthöhe von 1,1 Millionen Pfund (1,3 Mio. Euro) gestellt.
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Ob es die gute Schweizer Bergluft war? Die nüchterne Analyse der neuesten Wirtschaftsdaten? Oder doch nur der Blick auf die jüngsten Meinungsumfragen?
Kaum war Großbritanniens Oppositionsführer David Cameron vom Weltwirtschaftsforum in Davos zurückgekehrt, gaben die britischen Tories diese Woche eine neue Parole aus: Die Staatsausgaben müssten zwar sinken, doch die Kürzungen sollen "nicht besonders umfangreich" ausfallen. Bisher war stets von der bevorstehenden "Ära der Genügsamkeit" die Rede gewesen, mit drohendem Unterton hatten Cameron und sein Finanzsprecher George Osborne den Staatsbankrott an die Wand gemalt.
Der Schwenk reiht sich ein in eine Serie unglücklicher Manöver, welche die siegesgewisse Partei verunsichern. Drei Monate vor dem wahrscheinlichen Wahltermin (6. Mai) müssen Cameron und sein Team immer wieder neue Politikvorschläge öffentlich berichtigen. Er werde Ehepaaren Steuererleichterungen verschaffen und damit Familien stärken, kündigte der Parteichef im Jänner an. Auf die riesige Zahl unehelicher Kinder aufmerksam gemacht, ruderte der 43-jährige Familienvater erst zurück, bekräftigte dann seine Absicht und hinterließ Ratlosigkeit. Da habe er "Mist gebaut" , vertraute Cameron der BBC an.
Sein innenpolitischer Sprecher Chris Grayling erhielt eine scharfe Rüge vom Statistikamt. Wie der Innenpolitiker mit Kriminalitätszahlen umgehe, könne "das Vertrauen der Öffentlichkeit in die offizielle Statistik beschädigten" , schrieb der Amtsleiter.
Eine PR-Kampagne mit übermannsgroßen Plakaten des Parteichefs machte alsbald ihrem Slogan "We can't go on like this" (So kann es nicht weitergehen) Ehre: Stillschweigend verschwanden die Bilder des allzu glatt gestylten Cameron - sehr zur Freude des Labour-Premiers Gordon Brown, der sich über das "Chaos bei den Konservativen" lustig macht.
Die Umfragen spiegeln zunehmende Zweifel bei den Wählern wider. Monatelang hatten die Tories mindestens zehn, oft bis zu 15 Prozent Vorsprung. In der vergangenen Woche ist der Abstand auf sieben Prozent geschrumpft - zu wenig für einen Wahlsieg. Dem seriösen ComRes-Institut zufolge wünschen sich 82 Prozent der Befragten von Cameron "größere Klarheit in der Wirtschaftspolitik". (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD, Printausgabe, 5.2.2010)