Das Fehlen heimatlicher Gefühle kann auch einen großen Freiheitsgewinn bedeuten.

Foto: Christoph Gretzmacher

Es fällt ihm schwer, genau in Worte zu fassen, was es denn ist, das ihn immer wieder in die Wüste zieht. Denn was gibt es da außer Sand und Steine? Eigentlich nichts, oder? Vielleicht ist es gerade das, was Christoph Gretzmacher (er lieferte die Idee für den Dokumentarfilm "Die Frauenkarawane") am Leben in der Abgeschiedenheit so schätzt. "Keine Reizüberflutung wie hier in Europa, kein Flimmern, kein Flirren, keine schnelle Welt. Den Naturgewalten ausgesetzt sein, dem Sternenhimmel, dem Horizont - einfach open minded zu sein."

Kindertraum in Nordafrika

Als sein Vater 1983 die Leitung der damals größten österreichischen Auslandsbaustelle an der Nordküste Algeriens übernahm, war Christoph zehn Jahre alt. In seiner kindlichen Vorstellung gab es in Afrika nur Zitronenbäume, Elefanten und Steppe. Doch sein von Klischees behaftetes Bild von Afrika änderte sich schnell nach der Ankunft in dem faszinierenden Land zwischen Mittelmeer und Sahara.

"Wir wohnten nahe am Meer, alles war grün. Dann war da das hohe Atlasgebirge und dahinter die Steinwüste und nochmals dahinter die Sandwüste. Sogar Schifahren kann man in Algerien, es gibt dort wirklich alles." Für Christoph wurde ein Jugendtraum wahr. "Du kommst von der Schule nach Hause, schmeißt die Schultasche ins Eck und dann ab zum Strand." Französisch lernte er in der Schule, Arabisch von den Kindern, die er in seiner Freizeit kennenlernte. Statt Landschulwochen gab es Kameltouren in die Wüste. Sechs Jahre, die sein Leben in vielerlei Hinsicht prägten.

Reiseerzählungen gegen Hausaufgaben

Zurück in Wien erlebte der weit gereiste Teenager die Lebensart seiner neuen Schulkollegen als sehr ungewöhnlich: "Bei uns Jugendlichen in Algerien drehte sich alles um Natur und Sport. Für meine Mitschüler hier aber ging es um die erste Zigarette, das erste Bier und die ersten Frauen. Das war mir extrem fremd."

Überhaupt fand der damals 16-Jährige das Leben seiner neuen Klassenkollegen "urfad". "Die waren vielleicht mal in Italien auf Urlaub oder sind noch nie mit dem Flugzeug geflogen." Er hingegen war mit seiner Familie schon in die entlegensten Winkel zwischen Marokko und Ägypten gereist, wohl im Wissen, dass das für einen Jugendlichen aus Wien nicht selbstverständlich war. Klar wurde er "ein bisschen schräg angeschaut", aber interessiert an seinen Reisegeschichten waren die Mitschüler allemal. So sehr sogar, dass der Neue der Gymnasiumsklasse sich auch noch einen geschickten Vorteil daraus verschaffte - getauscht wurden "Erzählungen gegen Hausaufgaben".

Zwei Zuhause, kein Zuhause

Heute schlägt die afrikanische Seele des 37-jährigen Wieners hauptsächlich im Niger, genauer gesagt in der Stadt Agadez und der nördlich davon liegenden Wüste. Seit über zehn Jahren organisiert er jeden Winter individuelle Reisen in die Sahara. Neben seiner früheren Heimat Algerien und seinem eigentlichen Zuhause Österreich fühlt sich Christoph Gretzmacher auch dort ganz und gar nicht mehr fremd: "Da wo ich bin, bin ich zuhause. Momentan habe ich zwei Lebensmittelpunkte, zwei Zuhause."

Wenn er im Sommer in Wien an seinen Filmprojekten arbeitet, fehlt ihm Afrika nicht - und auch vice versa verhält es sich nicht anders. "Jedes Mal, wenn ich in Afrika bin und weiß, übermorgen geht's wieder nach Österreich, stelle ich mir die Frage, warum eigentlich? Ich habe doch alles hier." Aber der Charme des doppelten Zuhauses hat auch seine Schattenseite. "Es ist natürlich auch ein bisschen so, als hätte man gar kein Zuhause."

Die Zelte woanders aufschlagen

Ein Fehlen der allzu heimatlichen Gefühle kann aber auch einen großen Freiheitsgewinn bedeuten. Die als Nomaden lebenden Tuareg im Norden des Niger etwa können all ihre Habseligkeiten innerhalb kürzester Zeit zusammenpacken, um ihre Zelte wieder an einem anderen Platz aufzuschlagen. Eine Möglichkeit, die sich nur dann auftut, wenn man wenig besitzt. Eine Lebensweise, die dem Streben nach Freiheit entgegenkommt. Eine Freiheit, die in europäischen Lebenskonzepten nur bedingt zu erreichen ist. "Frei zu sein heißt sich von allem lösen zu können", meint Christoph Gretzmacher," denn alles was du besitzt, besitzt auch dich."