Sylvia Groth (54) ist Medizinsoziologin und leitet seit 1995 das Frauengesundheitszentrum in Graz. Dort wird Wissen zu Frauengesundheit in Beratungen, Kursen und Veranstaltungen in der ganzen Steiermark an Laien weitergegeben.

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Christian Egarter (53) ist Professor für Geburtshilfe und Frauenheilkunde an der Universitätsfrauenklinik der Medizinischen Universität Wien. SEine Spezialgebiete: Endokrinologie und Geburtshilfe. Egarter arbeitet seit 1983 am AKH und war einige Jahre Primarius in Vöcklabruck.

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Schwanger sein wollen oder nicht? Für Sylvia Groth ist die neue Pille danach EllaOne zu wenig getestet, Christian Egarter widerspricht vehement.

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Standard: Notfallkontrazeption ist ein Thema für Frauen, die ungeschützt Geschlechtsverkehr hatten und nicht schwanger werden wollen. Wer kommt in die Ambulanz?

Egarter: Meistens sind es sehr junge Frauen, viele sind verängstigt, heillos überfordert mit der Situation. Es gibt viele psychologische Hürden, über einen Kondomplatzer am Freitagabend zu sprechen, gerade auch für Frauen auf dem Land. Sie schaffen es oft erst Tage nach dem Geschlechtsverkehr zum Arzt, und dann ist es für einige Formen der Notfallkontrazeption zu spät.

Standard: Sie sprechen die Pille danach an. Wie wirkt sie?

Egarter: Nach einem ungeschützten Geschlechtsverkehr ist man nicht sofort schwanger. Ab dem Zeitpunkt des Eisprungs dauert es drei bis vier Tage, bis das befruchtete Ei vom Eierstock in die Gebärmutter wandert und sich dort einnistet. Mit der Pille danach verhindert man den Eisprung und damit eine Schwangerschaft vor der Befruchtung. Es gibt zwei Präparate auf Basis des Wirkstoffes Levonorgestrel, eines davon, Vikela, wurde gerade rezeptfrei gestellt.

Standard: Worin liegt die Inno- vation des neuen Wirkstoffes Ulipristalacetat, EllaOne?

Egarter: EllaOne ist neu und nicht rezeptfrei. Innovativ ist, dass es Frauen mehr Zeit lässt und noch nach fünf Tagen eine Schwangerschaft verhindern kann, Levonorgestrel wirkt maximal drei Tage.

Groth: EllaOne ist eine neue Option für Frauen, das stimmt, allerdings fehlen mir dafür wichtige Sicherheitsdaten. Das sollten Frauen, die vor die Wahl gestellt sind, wissen.

Egarter: Das sehe ich anders. Es gibt Studien, die mehr als 4000 Frauen einschlossen. Ulipristalacetat ist ein neuer Wirkstoff, wir haben aber viel Erfahrung mit Mifepristone, einem Wirkstoff aus derselben Substanzklasse. Daher sind wir auch sicher, dass der Einsatz weitgehend unbedenklich ist. Die Arzneimittelbehörde sieht das auch so, sonst hätte sie die Zulassung ja verweigert.

Standard: Mifepristone ist doch ein Abtreibungsmittel?

Egarter: Da muss man klar Indikationen trennen. Wenn ich den Wirkstoff postkoital, also nach dem Geschlechtsverkehr einsetze, wirkt er schwangerschaftsverhütend, in späteren Stadien der Schwangerschaft und nur in Kombination mit anderen Substanzen abtreibend.

Groth: Sie können doch aber nicht zwei verschiedene Wirkstoffe gemeinsam betrachten. Ulipristalacetat wurde nur an 1533 Frauen getestet, die zwei bis fünf Tage nach einem einmaligen ungeschützten Geschlechtsverkehr das Präparat einnahmen. Das Ergebnis: EllaOne hat eine Zuverlässigkeit von 60 Prozent, dieser Wert ist nicht besonders hoch - vor allem vor dem Hintergrund der vielen ungeklärten Fragen.

Standard: Welche Bedenken ergeben sich für EllaOne?

Groth: Das Präparat wurde nicht an Frauen unter 18 Jahren getestet. In den ersten Studien zu EllaOne, also vor der jetzt vorliegenden Phase-III-Zulassungsstudie, gab es Hinweise auf Eierstockzysten, denen in de Phase-III-Studie nicht mehr nachgegangen wurde, man hat keinen Ultraschall miteingeplant. Außerdem gibt es Kontra-indikationen für EllaOne wie z. B. eine bestehende Schwangerschaft, Stillzeit, Einnahme von Johanniskrautpräparaten, Medikamente gegen Epilepsie, Alzheimer oder auch Antibiotika und gestagenhaltige Medikamente. Zudem hatte Ulipristalacetat im Tierversuch an Ratten, Kaninchen und Affen auch eine embryoletale Wirkung gezeigt. Die Sicherheit für menschliche Embryonen ist nicht bekannt.

Standard: Heißt das, dass EllaOne eine abtreibende Wirkung hat?

Groth: Weil die Substanz neu ist, ist das nicht klar. Für mich ist die Tatsache, dass EllaOne eine abtreibende Wirkung haben könnte, nicht das Problem. Die Möglichkeit, dass Frauen selbst darüber entscheiden können, ob sie schwanger sein wollen oder nicht, halte ich für eine wichtige demokratiepolitische Errungenschaft. Nur: Frauen sollten es wissen und über alle Aspekte - auch Unsicherheiten im Zusammenhang mit Medikamenten - aufgeklärt sein. Die Entscheidung bleibt ihnen überlassen.

Egarter: EllaOne hat unmittelbar nach einem unverhüteten Geschlechtsverkehr keine abtreibende Wirkung, weil ja keine Schwangerschaft besteht. Zeitpunkt und Dosis der Einnahme sind entscheidend, und Sie, Frau Groth, verwechseln hier leider Notfallkontrazeption und Schwangerschaftsabbruch.

Groth: Ich halte mich an evidenzbasierte Studien zu Ulipristalacetat.

Standard: EllaOne wirkt laut Studie zu 60 Prozent. Was, wenn nicht?

Groth: Die Auswirkungen kennen wir nicht, die Herstellerfirma schreibt, es könnte die Schwangerschaft beeinträchtigen.

Egarter: Aus den Erfahrungen mit Mifegyne wissen wir, dass die Gefahr, dass der Embryo Schaden nimmt, nicht allzu groß ist. Ulipristalacetat verändert die Gebärmutterschleimhaut und verhindert die Einnistung des Eis. Aber ich betone: Die Beratung ist bei dieser Variante von Notfallkontrazeption enorm wichtig.

Standard: Was heißt das für Betroffene?

Egarter: Bis zum dritten Tag empfehle ich zur Notfallverhütung Levonorgestrel, ab dann erscheint mir aufgrund der Wirksamkeit EllaOne günstiger.

Groth: EllaOne ist aber dreimal so teuer wie Levonorgestrel, am dritten Tag haben beide Präparate eine 60-prozentige Wirkwahrscheinlichkeit.

Egarter: Nicht bei Betrachtung aller Studien, bei reinen Gestagenpräparaten nimmt die Wirksamkeit mit jedem Tag ab.

Groth: Und genau jetzt argumentieren Sie mit unveröffentlichten Studien, die nicht für alle nachvollziehbar sind. Unter Umständen betreuen Sie ja auch eine Studie mit Ulipristalacetat und haben sogar einen Interessenkonflikt.

Egarter: Habe ich nicht. Wir betreuen Studien mit Ulipristalacetat allerdings zu Myomen und Endometriose, und dafür bekomme nicht ich, sondern die Uni-Klinik Geld. Ich habe auch gar kein Problem damit, über einen neuen Wirkstoff zu informieren, das ist kein Geheimnis.

Standard: Nehmen wir an, eine Frau wird trotz EllaOne schwanger. Was dann?

Egarter: Dann geht es darum, ob diese Frau schwanger bleiben will oder nicht. Aus Vergleichsdaten mit der ähnlichen Substanz Mifepristone wissen wir, dass der Embryo kaum Schaden nimmt. Oder eine Frau entscheidet sich gegen eine Schwangerschaft: Dann gibt es die Option eines medikamen-tösen oder eines chirurgischen Schwangerschaftsabbruches.

Groth: Die Hälfte aller Schwangerschaften sind ungeplant. Das ist generell so, und oft überlegen sich Frauen erst nach einem "Unfall", wie es weitergehen soll. Für mich ist Vikela eine sehr sichere Option. Jede Frau sollte sie zu Hause haben, und wenn sie innerhalb von 24 Stunden nach dem unverhüteten Geschlechtsverkehr eingesetzt wird, verhindert sie Schwangerschaft zu 95 Prozent. Aufgrund der unsicheren Datenlage würde ich Frauen empfehlen, mit EllaOne noch fünf Jahre zu warten. Dann wird man mehr zur Sicherheit wissen.

Standard: Gibt es Alternativen?

Groth: Sich bis fünf Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eine Kupferspirale einsetzen zu lassen und damit auch die nächsten zehn Jahre nicht ungewollt schwanger werden.

Egarter: Das ist aber zehnmal so teuer wie EllaOne.

Standard: Wissen Frauen zu wenig über Verhütung?

Egarter: Es findet viel zu wenig Aufklärung in Schulen statt, nur durch Wiederholungen ergibt sich Wissen über Kontrazeption, das auch effektiv umgesetzt wird.

Groth: Wichtig ist, Information verständlich zu vermitteln, die Lebenssituation von Mädchen und Frauen ernst zu nehmen, Fragen wie "Wie oft haben Sie Sex?" anzusprechen und auch Partner in die Verantwortung miteinzubeziehen. Denn auch das Überziehen eines Kondoms muss man erst einmal schaffen. Sexualität ist gerade bei Jugendlichen oft spontan, und das erste Mal Sex findet deshalb meist unverhütet statt. Das ist einfach die Realität. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 15.2.2010)