Konrad Paul Liessmann: "Ich glaube, dass die Studentenproteste der letzten Monate damit zu tun haben, dass das Bild der Universitäten als Unternehmen, das einfach effizient Absolventen produziert, ins Wanken geraten ist. Das ist auch ein Ausfluss der Krise."

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Der Philosoph und Publizist Konrad Paul Liessmann warnt vor einer Rückkehr zum "Business as Usual". Radikale Parteien sind die Gewinner der Krise und des Versagens der Eliten, sagt er im Gespräch mit Eric Frey.

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STANDARD: Es schaut so als, ob die Welt nicht viel aus der Wirtschaftskrise gelernt hat. Ist die Krise etwa zu glimpflich verlaufen?

Liessmann: Jeder muss ein Interesse haben, dass eine Krise glimpflich verläuft. Niemand wünscht sich hohe Arbeitslosigkeit, Unternehmenszusammenbrüche, Streiks, Plünderungen oder Bürgerkrieg. Aber wenn man die Krise als Folge einer Dysfunktionalität des Systems sieht, dann stellt sich rein pädagogisch die Frage, wie schwer eine Krise sein muss, damit etwas daraus gelernt wird. Zu Beginn der Krise, nach dem Kollaps der ersten großen Banken herrschte bei den Systemvertretern eine Krisenrhetorik, die es in sich hatte. Der Kapitalismus stand zum ersten Mal seit 1989 wieder zur Disposition, alternative Konzepte wurden intensiv diskutiert. Gemessen an dieser Rhetorik haben wir nichts gelernt. Man stellt erleichtert fest, so schlimm war es nicht, und kehrt zu dem zurück, was man vorher gemacht hat.

STANDARD: Aber so schlimm ist es ja wirklich nicht gekommen.

Liessmann: Das liegt daran, dass massiv mit öffentlichen Geldern reagiert wurde. Die fanatischsten Vertreter des freien Marktes haben plötzlich ihre Liebe zum Staat entdeckt. Aber sie haben nicht den Schluss gezogen, dass das Verhältnis von freiem Markt und staatlicher Interventionspolitik neu überdacht werden muss. Wir alle wissen, dass es ganz anders gekommen wäre, wenn wir den freien Markt hätten walten lassen, wenn all die Banken, die sich verspekuliert haben, und all die Automobilindustrien, die nicht mehr konkurrenzfähig waren, pleite gegangen wären, wie es der freie Markt eigentlich gefordert hätte.

STANDARD: Ist dadurch der pädagogische Effekt verloren gegangen?

Liessmann: Das Auffangen der Banken war ökonomisch richtig, pädagogisch aber falsch. Und manche Hilfen für marode Industrien waren vielleicht auch ökonomisch falsch, etwa die Abwrackprämie oder die Opel-Rettung.

STANDARD: Sonst wären zehntausende Jobs verloren gegangen.

Liessmann: Das stimmt, aber es sind auch andere Industrien mit vielen Beschäftigten in die Krise gerutscht, und da hat keiner mit dem Ohr gewackelt. Es gehört zum Credo eines innovationsintensiven Kapitalismus, dass bestimmte Branchen aussterben. Als das Druckereigewerbe durch neue Technologien abgelöst wurde und tausende Arbeitsplätze vernichtet wurden, sagte man, das ist eine Entwicklung der Zeit. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Automobilindustrie anders behandelt wurde. Sie hat eine besondere Symbolkraft. Das Auto ist unser aller Liebkind.

STANDARD: Stichwort Banken. In Österreich wurde selbst die Hypo Alpe Adria für so systemrelevant erklärt, dass sie aufgefangen werden musste. Hätte man das stärker hinterfragen können?

Liessmann: Die Hypo Alpe Adria ist systemrelevant in einem anderen Sinn. Sie ist Symbol für eine ganz bestimmte Verquickung von Politik und Ökonomie, und einer hoch riskanten Expansionspolitik. Ich kann die ökonomischen Folgen einer Insolvenz nicht abschätzen - wie viele Menschen in Kärnten arbeitslos geworden wären, ob der Finanzverkehr in Österreich zusammengebrochen wäre. Aber insgesamt entsteht der Eindruck, dass der so viel geschmähte Staat zu nichts anderem da ist, als solche Managementfehler und die Folgen halbseidener Geschäfte aufzufangen.

STANDARD: Woher kommt denn die Einstellung, dass jeder und alles aufgefangen werden muss? Das klingt ja fast wie eine sozialistische Ideologie.

Liessmann: Bei Institutionen, die so groß waren, dass ihr Ruin Volkswirtschaften ins Verderben hätte ziehen können, verstehe ich es. Bei weniger großen Institutionen war es wohl auch erfolgreicher Lobbyismus. Aber dort, wo eine Rettung aus ökonomischen und sozialpolitischen Gründen unvermeidlich war, hätte man sich danach Korrekturen des Systems überlegen müssen. Keine Bank sollte so groß wird, dass sie sich alles erlauben kann, weil sie nicht fallengelassen werden darf. Hier wären eine Dezentralisierung oder auch eine Zerschlagung im Sinne einer vernünftigen Wettbewerbsordnung denkbar. Auch darüber wurde - außer in den USA - nicht ernsthaft nachgedacht

STANDARD: Das war in den 30er-Jahren anders: Eine viel tiefere Krise schuf den Willen zur Veränderung.

Liessmann: Obwohl wir wissen, dass die Regularien, die damals entwickelt wurden, äußerst sinnvoll waren, haben wir uns von ihnen verabschiedet. Und jetzt, wo wir die Folgen spüren, ziehen wir nicht den Schluss daraus, dass es mehr Regulationsmechanismen bedarf, um so etwas in Zukunft zu verhindern. Das heutige "Business as Usual" ist eine unverantwortliche Blauäugigkeit. Denn die nächste Krise wird mit Sicherheit kommen, und angesichts der angespannten Budgets wird es niemaden mehr geben, der irgendetwas auffangen kann.

STANDARD: Was sind die Gründe für dieses Versagen?

Liessmann: Es fehlt die politische Kontrolle über die Ökonomie. Das Credo der letzten 30 Jahre lautete, die Politik soll nicht die Wirtschaft regulieren, sondern selber wie ein Unternehmen funktionieren. Wir haben das betriebswirtschaftliche Denken zu einem universalen Denken gemacht. Dann aber kann der Staat keine Rahmenbedingungen für Unternehmen mehr vorgeben. Dieselben Rating-Agenturen, deren Bewertungen für die Krise mitverantwortlich waren, werden jetzt beauftragt, die neuen Richtlinien zu entwerfen. Das ist absurd. Die klassische Gewaltentrennung, von der die moderne Demokratie leben sollte, funktioniert einfach nicht mehr.

STANDARD: Aber die Politiker könnten so handeln, wenn sie wollten. Warum tun sie es nicht?

Liessmann: Ich verstehe das nicht, denn eine langfristige Politik, die versucht, die Krisenanfälligkeit des Systems zu reduzieren, würde sich auch in gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen Erfolgen niederschlagen. Eine Politik, die jetzt darauf verzichtet, muss damit rechnen, dass sie in wenigen Jahren mit Massenarbeitslosigkeit, Deflation oder Inflation und anderen Problemen konfrontiert ist, die sie politisch nicht überleben wird. Es ist extrem kurzsichtig, wie gegenwärtig argumentiert wird.

STANDARD: Man hätte aus der Bevölkerung mehr Druck erwartet, mit Härte gegen die Verursacher der Krise vorzugehen. Aber so richtig zieht dieses Thema nirgendwo.

Liessmann: Manche versuchen sehr wohl, Konsequenzen zu ziehen. Ich glaube, dass die Studentenproteste der letzten Monate damit zu tun haben, dass das Bild der Universitäten als Unternehmen, das einfach effizient Absolventen produziert, ins Wanken geraten ist. Das ist auch ein Ausfluss der Krise. Auch anderswo wird das Verhältnis Staat und Markt jetzt anders diskutiert als vor fünf Jahren. Viele Maßnahmen aber kommen nicht wirklich an, weil die Menschen einen untrüglichen Instinkt dafür haben, dass die Parteien kein tragfähiges Konzept haben und nur Symptomtherapie betreiben.

STANDARD: In den 30er-Jahren gab es viel mehr radikale Reformprogramme, die leider auch totalitär waren. So abschreckend das ist, wäre etwas mehr Radikalität im öffentlichen Bewusstsein wünschenswert?

Liessmann: Ich wünsche mir überhaupt keine Radikalität, sondern einen Zustand, in dem Radikalität nicht notwendig ist. In Deutschland und Österreich gibt es radikale Parteien, die dieses Unbehagen auffangen; in Deutschland ist es die extreme Linke, in Österreich die extreme Rechte. An deren Wählerstimmen kann man auch ablesen, inwiefern es nicht gelungen ist, diese Krise so zu bewältigen, dass die Menschen sich nicht verraten und verkauft fühlen.

STANDARD: Die FPÖ als Krisengewinnler?

Liessmann: Radikale Parteien sind immer Krisengewinnler. Es ist einfacher, in einer Krise den Protest, das Unbehagen zu formulieren, als zu sagen, wie man die Gegenwart gestalten könnte.

STANDARD: In den 30er-Jahren waren Protestbewegungen nicht nur populistisch, sondern vertraten utopische Gesellschaftsordnungen.

Liessmann: Bestimmte politische Entwürfe sind vom Lauf der Geschichte desavouiert worden. Wir können nach den Erfahrungen mit dem Stalinismus keine kommunistischen antikapitalistischen Utopien mehr entwerfen. Wir können nach den Erfahrungen mit dem Faschismus keine völkischen Utopien mehr entwerfen. Das Beruhigende an der jetzigen Krise ist, dass sich solche totalitären Versuchungen als politisch-wirksame Konzepte noch nicht bemerkbar machen. Die extreme Linke in Deutschland und die extreme Rechte in Österreich sind gemessen an den totalitären Parteien der 20er- und 30er-Jahre höchst gemäßigt, bei allen verbalen Exzessen, die sie sich leisten.

STANDARD: Wächst durch die erfolgreiche Krisenbewältigung die Bereitschaft zum Risiko, da jeder weiß, dass er ohnehin aufgefangen wird?

Liessmann: Das ist möglich. Wenn die Sicherheitsnetze Risikoverhalten belohnen, muss man sich überlegen, wie weit in unserem ökonomischen System der Begriff des Risikos überhaupt noch einen Sinn ergibt. Dazu kommt, dass unser System spekulatives Verhalten belohnt und Arbeit, Produktivität und langfristige Investitionen im klassischen Sinn bestraft. Das liegt an den Rahmenbedingungen. Man könnte sich ja auch ein System denken, in dem menschliche Arbeit am geringsten besteuert wird und Spekulationsgewinne am höchsten - also z.B. Arbeit mit 20 Prozent und Spekulationsgewinne mit 70 Prozent.

STANDARD: Spekulation heißt auch, dass Erfolg eine Glücksfrage ist und keine Frage der Leistung.

Liessmann: Ja, wir sind eine Glückspielgesellschaft. Eine Partei wie die Volkspartei schmückt sich mit dem Slogan, Leistung muss sich wieder lohnen, und präferiert gleichzeitig ein System, in dem sich alles Mögliche lohnt, nur nicht Leistung. Diese Widersprüchlichkeit spüren die Menschen, dieses Auseinanderklaffen von politischer Rhetorik und dem, was tatsächlich passiert. Ich würde das Potenzial des sozialpolitischen Unbehagens, das sich durch die Krise bildet, nicht unterschätzen. (Langfassung des Interviews; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13./14.2.2010)