Betrifft: Alice Pechriggls Empörung über "grüne Habsburg-Sentimentalitäten" , DER STANDARD, 12.22020

Ja, die Grünen treten für ein passives Wahlrecht der Mitglieder von "Familien, die ehemals regiert haben" , bei der Bundespräsidentenwahl ein, also auch von Menschen, deren Nachnamen auf Habsburg-Lothringen lautet. Eine Kommentatorin macht deshalb Ulrich Habsburg-Lothringen gleich zum Kandidaten der Grünen für die Bundespräsidentschaftswahlen. Was ist nur in die Grünen gefahren, lautet der Unterton. - Zur Klarstellung:

Zwei Leitlinien gehören zur guten grünen Tradition: 1. In Demokratie und Rechtsstaat sollen alle mitreden können, die von Entscheidungen des Staates betroffen sind. 2. Jeder Mensch hat Grundrechte und ist als Individuum zu respektieren. Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht ist der Vorenthalt eines Grundrechts und bedarf einer Rechtfertigung. Der Verfassungsgesetzgeber 1920 sah sich aufgrund "der in der Geschichte ja schon beobachteten Versuche von Mitgliedern ehemals regierender Familien, auf dem Weg über die Präsidentschaft der Republik die Monarchie wieder aufzurichten" , dazu veranlasst. 90 Jahre später zeigt sich ein anderes Bild.

Zur Erinnerung: Die Republik Österreich wurde nicht von Mitgliedern der Familie Habsburg-Lothringen zerstört, sondern von Austrofaschisten und Nationalsozialisten. Ein Ausschluss ist daher aus Sicht der Grünen nicht mehr rechtfertigbar. Jeder Mensch hat das Recht aufgrund seiner eigenen Äußerungen eingeschätzt und beurteilt zu werden - und nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer weitverzweigten Familie. Heutige Habsburger für allfällige Sünden von Franz Joseph oder dessen Vorfahren in Sippenhaft zu nehmen, ist aberwitzig.

Die Grünen nehmen die Verfassung ernst. Sie haben natürlich geprüft, ob eine derartige Verfassungsänderung einer Volksabstimmung unterzogen werden müsste. Namhafte Verfassungsexperten Adamovich/Funk/Holzinger und Öhlinger) haben dies verneint.
 (Alexander van der Bellen, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.02.2010)