"3Abschied", eine Zusammenarbeit von Anne Teresa De Keersmaeker und Jérôme Bel, hatte in Brüssel Premiere, im März ist sie zweimal in Wien zu erleben.

Foto: Theater an der Wien

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, und daraus das sechste Lied, Der Abschied. Die melancholische Musik fließt durch das üppige Innere des Theaters, regungslos lauscht ein Orchester im Rampenlicht auf der Bühne. Die Choreografin sitzt neben dem CD-Player und drückt die Stopptaste. Musik abgewürgt. Stille. Das ist der erste todesnahe Bruch in dem Tanzstück 3Abschied von Anne Teresa De Keersmaeker und Jérôme Bel, das eben am Brüsseler Théâtre de la Monnaie uraufgeführt wurde.

Schon die Zusammenarbeit dieser sehr unterschiedlichen Künstler, die beide Tanzgeschichte geschrieben haben, ist eine Sensation. Aber was daraus entstanden ist, hat selbst eingefleischte Brüsseler Keersmaeker-Experten überrascht. Denn vor allem die Belgierin geht in diesem Stück mit dem Stereotyp ihrer "Marke" durchaus berserkerhaft um.

Der popkulturaffine Konzeptualist Jérôme Bel (The Show Must Go On!) bleibt eher bei sich. Seit einiger Zeit schon kooperiert er mit ausgesuchten Tänzerpersönlichkeiten - unter anderem mit der französischen Ballerina Véronique Doisneau oder mit Lutz Förster von Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater. Anne Teresa De Keersmaeker hingegen versucht, aus dem goldenen Käfig ihrer beliebten opulenten Gruppenchoreografien auszubrechen. Erstmals vor sieben Jahren mit dem Solo Once, dann 2008 mit ihrem Steve Reich Evening nebst dem Duett Keeping Still und im Vorjahr mit der großen Arbeit The Song.

Akzeptanz des Todes

Bereits in Keeping Still hat sich Keersmaeker - zusammen mit dem Wahlösterreicher Robert Steijn - der Musik gewidmet, die jetzt im Zentrum von 3Abschied steht. In diesem zweiten Anlauf also erzählt sie auf der Bühne eine Anekdote: Sie habe mit dem Dirigenten Daniel Barenboim kooperieren wollen. Als der Maestro von ihrem Ansinnen erfuhr, zu Der Abschied eine Choreografie zu machen, meinte er, das sei ganz und gar unmöglich, denn hier ginge es um Transzendenz, um die Akzeptanz des Todes, und Tänzerkörper kommunizierten doch genau das Gegenteil. Keersmaeker weiß jedoch genug über Tanz, um diese Behauptung zu bezweifeln.

Dass sie gerade Jérôme Bel, der immer wieder das Verschwinden, die Absenz und den Tod auf der Bühne thematisiert hat, als Verstärkung ansprach, macht also Sinn. Der Wechsel von der Tonkonserve - natürlich die berühmte Wiener-Philharmoniker-Aufnahme mit dem faszinierenden Alt von Kathleen Ferrier - zum Live-Orchester, dessen Musiker als mit der Tänzerin gleichberechtigte Darsteller auftreten, das ist Jérôme Bel. Und zwar mit klarem Bezug zu seinem Kollegen Xavier Le Roy, der sich bereits in drei Stücken mit den Tanzqualitäten von Musikern und Dirigenten auseinandergesetzt hat.

Der Ausbruch aus der eigenen virtuosen Tanzsprache, das improvisierte Navigieren der Tänzerin zwischen den Musikern und das Herstellen einer musikalischen Geschichte über den Tod, das ist Keersmaeker. Das Wagnis zu singen, ohne tatsächlich die Qualitäten einer Sängerin zu haben, ist die Künstlerin bereits in Once eingegangen, dann wieder in Keeping Still, und eben auch hier.

So gesehen war das große Stück The Song auch ein persönliches Manifest. In 3Abschied lehnt sich die Choreografin, die dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiert, allerdings noch weiter aus einem Fenster, das nicht gerade im Parterre liegt. Sie hat den Mut, im Zenit ihrer Laufbahn darauf hinzuweisen, dass es für eine Künstlerin mehr zu tun gibt als die edle Weiterführung von bereits Erreichtem.

Der bewusste Einsatz des Peinlichen als politisches Statement ist eine postmoderne Waffe gegen die Autoritätshörigkeit vieler Hochkultur-Bewunderer. Keersmaeker und Bel nehmen dieses Heft in die Hände. Also ist bei den Aufführungen der brillanten, herausfordernden Arbeit 3Abschied im Theater an der Wien im März mit Unruhe im Auditorium zu rechnen. (Helmut Ploebst aus Brüssel / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.2.2010)