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Seit bald zweihundert Jahren wächst das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Popularisierung. Im Englischen wird sie als "Pop Science" bezeichnet und im Französischen als "vulgarisation", was alleine schon zeigt, wie vielfältig hier die Zugänge sein können. Wie steht es damit in Wien? Wir sind weit davon entfernt, ein Wissenschaftsmuseum zu besitzen, das sich mit jenem Barcelonas messen könnte, und wer das ORF-Wissenschaftsprogramm mit britischen oder bayrischen Vorbildern vergleicht, muss in Depression verfallen. Doch zum Trost gibt es bei uns eine Einrichtung, um die uns andere beneiden können: Das sogenannte "math.space" im MQ, das von Rudolf Taschner betrieben wird.

Nicht selten drängen sich fünfhundert Zuhörer zu Taschners Vorträgen. Mehr erlaubt die Feuerpolizei nicht. Viele wissen das und kommen früh, und ihr erwartungsvolle Raunen weist darauf hin, dass ein Event ins Haus steht.

Das Publikum ist von jenem im Konzerthaus kaum zu unterscheiden, außer durch die bemerkenswerte Anzahl junger Leute. Taschner hat viele begeisterte Anhänger. Das muss einer Besprechung seines neuesten Buches (im ALBUM schon als Tipp gewürdigt) vorausgeschickt werden: Denn Rechnen mit Gott und der Welt richtet sich an einen weit größeren Leserkreis, ist aber entscheidend geprägt durch die Vorträge im math.space und ihr Publikum. Dessen Ansprüchen zu genügen ist nicht leicht. Es erwartet Neues, und zwar in rascher Folge, am besten monatlich; andererseits soll dieses Neue doch dem bewährten Rezept folgen, also "mehr vom selben" sein. Die Taschnerianer haben da ähnlich feste Vorstellungen wie Konzertabonnenten.

Zum Glück kann Bewährtes fast unbegrenzt variiert werden. Taschner vertraut Vertrautem: den platonischen Körpern, musikalischen Tonfarben, astronomischen Weltvorstellungen, dem goldenen Schnitt, den Launen des Münzwurfs und Pythagoras in all seinen Aspekten. Das wird immer aufs Neue kombiniert, wie im Kaleidoskop, und immer wieder auf andere Gebiete projiziert, mit souveräner Virtuosität. So heißen denn auch die Kapitel etwa "Mathematik und Wirtschaft", "Mathematik und Kunst", "Mathematik und Moral" und sogar "Mathematik und Fußball" (mit besonderer Berücksichtigung des abgestumpften Ikosaeders).

Wie Taschner selbst im Vorwort ankündigt, berichtet er nicht über Mathematik. Vielmehr setzt er sie ein, um andere Themen auszuleuchten, in freien, scheinbar schwerelosen Assoziationsketten, die wie Spaziergänge durch die Kulturgeschichte wirken. Man muss nicht mit allem einverstanden sein. Mir persönlich ist Taschners Deutung des Zufalls in der Evolution ein wenig zu postmodern. Und wenn er die Sicherheit der Mathematik so entschieden auf dem Zählprozess gründet, so will mir scheinen, dass die historische Rolle der Geometrie allzu kurz kommt. Dort wurde ja das Beweisen zur hohen Kunst entwickelt. Doch Taschner hat wohl nicht die Absicht, zu dieser oder jener Meinung zu bekehren. Er unterscheidet zwischen "Wissenden" (etwa Galilei, dem klar war, dass sein Widerruf der Astronomie keinen Schaden zufügen konnte) und "Glaubenden" (wie Giordano Bruno, der für sein Weltbild auf den Scheiterhaufen ging). Das erlaubt es, jedem Widerspruch mit Milde zu begegnen.

Es gibt unter meinen Kollegen den einen oder anderen, dem Taschners wortgewandte Vermittlung des Genusses, den die Mathematik bereiten kann, etwas zu glatt erscheint. Vielleicht meinen sie auch, dass eben dadurch eine ganz besondere Art mathematischer Freude zu kurz kommt: nämlich jene, nach angestrengtem Nachdenken ein Problem plötzlich lösen zu können. Ein distinguierter Rezensent von Taschners Buch hat sich ein paar Formeln gewünscht. Vielleicht wären ihm schon ein paar Denksportaufgaben recht gewesen. Der Verlag, der Taschners Buch erlesen illustriert hat, würde sich wohl nicht zieren. Aber es wäre ein Stilbruch.

Der Mathematik kann man sich auf vielerlei Wegen annähern. Nur wenige sind so verführerisch wie jener, der im math.space entwickelt wurde. Taschners Buch ist ein probates Mittel gegen den Widerwillen, den allzu viele mit dem Schulfach verbinden. (Karl Sigmund, DER STANDARD, Print-Ausgabe, Album, 20./21. Februar 2010)