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Was ist die beste Medizin? Hausarzt Christian Euler kritisiert die Flut an Leitlinien, Internistin Ingrid Mühlhauser verteidigt sie.

Foto: AP/Frank Augstein

Das Gespräch moderierte Bert Ehgartner.

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Standard: Wie gut fühlen Sie sich denn vonseiten der Wissenschaft in Ihrem Bestreben unterstützt, Ihren Patienten die bestmögliche moderne Medizin zu bieten?

Euler: Wir haben schlechte Erfahrungen. Medizin war immer eine hierarchische Angelegenheit, mit den Hausärzten an unterster Stelle. Das bricht jetzt langsam auf. Die Zeiten sind vorbei, wo sich Allgemeinmediziner von den wissenschaftlichen Kapazundern die Welt erklären lassen. Wir sind nicht mehr die Ministranten beim Hochamt der Fachgesellschaften, sondern schmeißen denen ihre Richtlinien auch mal zurück.

Mühlhauser: Dann müssten Sie eigentlich ein Anhänger der evidenzbasierten Medizin (EBM) sein. Denn diese ermöglicht es jedem einzelnen Arzt, zu überprüfen, ob das, was die Experten in ihren Leitlinien definieren, auch richtig ist. Dadurch kommt es zu einer Diskussion.

Euler: Es ist eine große Kunst, die richtige Medizin auf den einzelnen Patienten anzuwenden. Es wird in der Öffentlichkeit - speziell auch von der Gesundheitspolitik - aber so getan, als hätten wir bis jetzt Blödsinn gemacht. Gott sei Dank waren die Patienten gesund genug, das zu überleben. Jetzt aber werden endlich alle Ärzte an die Kandare genommen und in ein Korsett aus lauter Vorschriften und Leitlinien gepresst. Wir haben keinen Blödsinn gemacht. Wir sehen jetzt, dass jene Ärzte im Recht waren, die skeptisch geblieben sind, wenn die Grenzwerte für Blutdruck oder Cholesterin weiter nach unten gedrückt wurden.

Mühlhauser: Ideal wäre es natürlich, wenn das, was der Arzt in der Praxis macht, auch mit dem überein stimmt, was dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht.

Euler: Wir haben auch studiert.

Mühlhauser: Die Entwicklung seither war aber enorm.

Euler: Nicht immer zum Guten.

Mühlhauser: Die Reflexion dessen, was man tut - sich selbst immer wieder zu korrigieren, das ist ein wesentliches Element wissenschaftlichen Agierens.

Euler: Dann sagen Sie es doch den Kardiologen oder den Diabetologen: dass es ein Wahnsinn ist, bestimmte Mittel zu empfehlen, und ein Unfug, dass das in den Leitlinien steht. Etwa bestimmte neue Medikamente für Diabetes.

Standard: Wie haben Sie sich denn bei Diabetes Ihre Meinung gebildet? Über Erfahrungswerte oder durch kritische Arbeiten?

Euler: Ich denke, dass viele verschiedene Praktiker nicht irren können, wenn sie bei bestimmten Mitteln skeptisch sind. Auch wenn die Wissenschaft noch so sehr die Nase rümpft. Wenn sich eine Vorgangsweise konstant in der Praxis hält, dann muss die etwas an sich haben.

Mühlhauser: Aber das ist einer der größten Irrtümer der Medizin, so zu denken. Nur weil die Ärzte immer der Meinung waren, dass etwas richtig ist ...

Euler: ... und es auch den Patienten nicht geschadet hat.

Mühlhauser: Sie meinen, dass es den Patienten nicht geschadet hat. Es gibt aber leider verschiedene Beispiele, wo die Ärzte nach bestem Gewissen gehandelt haben und man dann eine schreckliche Enttäuschung erleben musste. Berühmte Beispiele sind die Hormonersatztherapie oder ein verbreitetes Mittel zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen. Als Hausarzt können Sie das nie herausfinden, ob mit dem Mittel jetzt nicht fünf, sondern zehn von tausend Leuten sterben. Dafür braucht es große Studien.

Euler: Beide Beispiele zeigen, dass wir nicht die Zunft sind, die es zu überzeugen gilt. Ich hatte Kontakt mit Professoren, die gegen meinen Widerstand darauf beharrt haben, dass ich ihren Müttern bis zu deren Tod regelmäßig Östrogene verschreibe.

Mühlhauser: Dann nehmen wir die Antibiotika-Behandlung bei den Mittelohrentzündungen.

Euler: Die EBM tröstet mich hier, wenn ich weiß, dass es nicht mehr Komplikationen gibt, wenn ich kein Antibiotikum verschreibe. Aber wenn ich einem Kind kein Antibiotikum gebe und die Mutter zwei Tage später zum Facharzt geht, wird er auf mich losgehen. Dass EBM hier auf meiner Seite ist, ist schön, in der Praxis aber schwer anzuwenden.

Mühlhauser: Das Problem ist dann aber die Abwesenheit von EBM.

Euler: Je höher in der Hierarchie die Leute stehen, desto wissenschaftsgläubiger sind sie. Ich war etwa im Herbst zum Höhepunkt der H1N1-Hysterie in einem Gremium, wo ich unter lauter Universitätsprofessoren der einzige Allgemeinmediziner war. Ich habe mich dort kritisch über die Impfung geäußert, und alle sind über mich hergefallen. Professoren, 20 Jahre jünger als ich, haben ihre Kinder mit ins Spital genommen, damit sie geimpft werden. Das ist nicht Wissenschaft, das ist Glaube.

Mühlhauser: Das kann man nicht generalisieren. Es gibt auch in Österreich Professoren, die sich bemühen, wissenschaftsbasiert zu arbeiten.

Euler: Kennt man sie? Wer in Österreich eine Habilitation schreibt, hat einen Sponsor, und dem bleibt er treu bis zur Pension.

Mühlhauser: Die Abhängigkeit von der Industrie ist ein ganz wichtiger Punkt.

Standard: Für uns ist das ein ganz großes Problem, dass nun die Gesundheitspolitiker meinen, sie müssten für jede Krankheit ein Programm vorlegen, weil das die dummen Ärzte sonst nicht behandeln können. Gleichzeitig lassen sie es aber zu, dass die Köpfe der Wissenschaft eingekauft sind und sich jeder Praktiker fürchten muss, vor Gericht einen Gutachter zu bekommen, der ihn ohrfeigt, weil der Arzt dem 80-Jährigen keinen Cholesterinsenker verschrieben hat.

Standard: Sprechen wir über Diabetes. Hier ist die Ärztekammer in Niederösterreich kürzlich aus dem sehr gelobten Disease-Management-Programm zur Optimierung der Diabetestherapie ausgestiegen. Warum?

Euler: Es haben zehn Prozent der Ärzte mitgemacht, und die Ergebnisse nach einem Jahr waren nicht überzeugend. Die Ärzte haben, obwohl sie ein bisschen mehr bezahlt bekommen haben, das Programm wieder aufgekündigt. Wir wollen nicht, dass man uns vermittelt, unsere Ausbildung wäre nichts wert, und wir müssten jetzt für die Behandlung jeder Krankheit einen eigenen Kurs machen.

Mühlhauser: Ich bin selber Diabetologin und hab mich viel mit Patientenschulung beschäftigt. Wir haben die Programme evaluiert - die Ergebnisse waren großartig. Sie sind aber nicht umgesetzt worden. Manche Ärzte machten es nur, wenn sie Lust oder einen besonderen Hang zur Patientenschulung hatten. Ein gutes Programm sorgt dafür, dass alle Patienten bekommen, was ihnen zusteht. Und auch, dass sie nicht übertherapiert werden.

Euler: Ich persönlich bin überzeugt, dass die Daten aus diesen Programmen auch Grundlagen für Rationierungen sein werden. Indem es eben heißt: Diesem übergewichten Diabetiker schieben wir jetzt zwei Jahre lang das geballte Wissen hinein. Und wenn er dann immer noch so fett ist, zahlt er mehr Beitrag.

Mühlhauser: Ich lehne das ebenso ab, dass Patienten bestraft werden sollen, weil sie nicht abnehmen. Oder dass Ärzte bestraft werden, weil ihre Patienten nicht abnehmen.

Standard: Aber was macht man mit Widersprüchen zwischen den offiziellen Programmen und den Leitlinien der Fachgesellschaften?

Mühlhauser: Das ist ein Problem. Dafür braucht es viel Aufklärungsarbeit. Die Leute müssen verstehen, dass eine Leitlinie von einer Fachgesellschaft über Experten formuliert wird und dass die nicht unbedingt evidenzbasierte Aussagen treffen.

Euler: Wenn ich heute den pharma-unabhängigen Arzneimittelbrief lese, muss ich mich aufrecht hinsetzen, damit ich nicht einschlafe. Das ist so mühsam im Vergleich zu den bunten Inseraten, wo einfache Botschaften sofort ins Gehirn gehen. Wir haben einen übermächtigen Gegner. Und die Frage ist, ob die Politik den Mut hat, sich damit anzulegen. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.03.2010)