Von 1963 bis 1971 habe ich acht Jahre meiner Kindheit und Jugend im Internat des oberösterreichischen Stifts Kremsmünster verlebt. Ich kenne die nun zutage tretenden Vorwürfe nicht aus eigener Leidenserfahrung, aber aus Geraune und aus Andeutungen von Kollegen aus dieser Zeit sehr wohl. Wäre ich selbst Opfer gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich wesentlich früher gewehrt.

Was mich aber schon beim "Fall Groër" bis zu den heutigen Berichten genervt hat, ist, dass die Medien immer nur auf den Sex starren wie das Kaninchen auf die Schlange. In Wirklichkeit gab es, wie jetzt am Fall Kremsmünsters bekannt wird, auch jede Menge nichtsexueller Gewalt und Demütigungen gegenüber Kindern, die mindestens so bedenklich sind. Aber diese Dinge interessierten bisher kaum jemanden. Sexuelle Annäherungen als das "schlimmste Verbrechen" gegen Kinder zu bezeichnen, ist denn auch nichts als eine moralistische Behauptung.

Man stellt sich den sexuellen Missbrauch an Schülern immer in der aggressivsten Form vor - geschändet, vergewaltigt, entwürdigt. In der Situation selbst damals waren zumindest einige der "begehrten Knaben", ob als Chorsopranisten oder zierliche Turnknaben, gleichzeitig auch ganz "besondere Zöglinge", bevorzugte, ja manchmal privilegierte (worauf an dieser Stelle vor Jahren auch schon der Schriftsteller Adolf Haslinger hingewiesen hat). Zum anderen sind diese Opfer aber auch Zeugen eines völligen Versagens der sexuellen Entwicklung im Rahmen der priesterlichen Ausbildung und Sozialisation: Das alles ist in den letzten Tagen oft artikuliert worden.

Was kaum vorkam, sind Dinge wie sadistische Strafpraktiken, Trommelfellverletzungen durch Ohrfeigen, büschelweise ausgerissene Haare, schwärzeste Pädagogik also, Einer-für-alle-Strafen und alles, "was Gott verboten hat" - zumindest seit der Aufklärung. All das habe ich in Kremsmünster auch erlebt. Und diese Praktiken entstammen derselben Quelle wie die sexuellen Übergriffe: einem veralteten, menschenfeindlichen System von Autorität und Unterwerfung, von Vertuschen und Verleugnen, wie es in Teilen kirchlicher Organisationen zumindest bis damals an der Tagesordnung war. Die fast ausschließliche moralistische Besinnung auf den verdammten (!) Sex ist indirekt auch ein Vergessen jener Opfer, denen nicht sexuell nahegetreten wurde und die dennoch schlimme Dinge hinnehmen mussten.

Ich selbst blieb von Übergriffen beider Art weitgehend verschont; dies deshalb, weil ich sehr schnell durchschaute, wann es "gefährlich" wurde (ein Ergebnis guter Aufklärung und selbstbewusster Erziehung von zu Hause her!), und weil meine Eltern mich bei entsprechenden Erzählungen vehement unterstützt und sich sofort beschwert haben. Von dort weg wurde ich in Frieden gelassen. Aber dieses Glück, diese Gefestigtheit von zu Hause her, hatten nicht alle - und ich möchte nicht wissen, wie es in der Persönlichkeit mancher ehemaliger Internatsschüler - ohne jeden sexuellen Übergriff! - in der Folge aussah.

Ich bin aber andererseits auch weit entfernt davon, die Klöster, die Patres, den Abt, der ein lieber Klassenkollege von mir war, zu verurteilen. Ich bin auch nicht voll Hass gegen die damaligen Widersacher, weil meine berufliche Entwicklung mir das Glück beschert hat, diese Dinge im Rahmen einer langen psychotherapeutischen Ausbildung zu bearbeiten und zu reflektieren. Die Täter, die im Rahmen eines Systems, das einen pathogenen Umgang mit Sexualität und Autorität pflegt - und hier ist die gesamte katholische institutionelle Kirche gemeint -, sind letztlich auch selbst Opfer dieses Systems.

Die eigentlichen "Urheber" der Misere aber sind jene kirchlichen Würdenträger bis zu jenen nach Rom, die bis heute dieses allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zuwiderlaufende Theater um die menschliche Sexualität, aber auch um Macht, Autorität und Unterwerfung aufrechterhalten und weiter verteidigen. An erster Stelle meine ich hier Bischöfe wie Laun, Küng, Krenn oder Fischer, von denen ich im Rahmen der Diskussionen um die Sexualerziehung schon vor Jahrzehnten teilweise haarsträubende Dinge und menschenfeindliche Ansichten gehört habe. Aber auch ein Kardinal Schönborn ist mit gemeint, wenn er etwa die "68-er Karte" aus dem Hut zieht, als ob eine Bewegung zur Abschaffung der schlimmsten angsteinflößenden Repressalien gegen sexuelles Erleben und gegen autoritäre Anmaßungen Schuld an den Auswüchsen genau dieses repressiven Systems sein soll!?

Wenn diese Würdenträger heute mit zerknirschter Miene ihr Bedauern in die Fernsehkameras stammeln, mag das anstandshalber schon seine Berechtigung haben. Viel besser und "gottgefälliger" würden sie handeln, wenn sie sich endlich für die Entkrustung der katholischen Sexualmoral, für einen anderen Umgang mit Sexualität von Menschen im Priesteramt und für die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche - deren Entwertung und Ausgrenzung Teil dieser Sexualpathologie sind - engagieren würden. Dann könnten sie vielleicht auch noch einen Rest an Glaubwürdigkeit retten. (Josef Christian Aigner/DER STANDARD, Printausgabe, 13./14. März 2010)