"Am besten, Sie schauen ihn vorläufig nicht an." Leicht gesagt, nicht so einfach durchzuhalten - immerhin begegnet man nicht jeden Tag im Wald einem Wolf. Daran ändert auch nichts, dass "Cherokee" an einer Leine geht. Gemeinsam mit Kurt Kotrschal, einem der drei Leiter des Wolfs- forschungszentrums Ernstbrunn, bildet er ein bemerkenswertes Empfangskomitee. Aber selbstverständlich starrt man nicht auf Leute - und auf Wölfe schon gar nicht -, also wenden wir den Blick ab und uns dem Eingang des Wolfszentrums zu.

Foto: René van Bakel

Das ist derzeit noch im "Küchengarten" des Schlosses Ernstbrunn untergebracht, aber statt Gemüse und Kräutern gedeihen auf seinen rund 4000 Quadratmetern seit letztem Mai neun Timberwölfe aller Schattierungen, von Weiß bis Schwarz. Nanuk, ein großer Heller, fühlt sich berufen, uns mit dumpfen "Wuff"-Lauten seine mangelnde Begeisterung über das Eindringen von Fremden kundzutun. "Er ist unser Wach-Wolf", kommentiert Kotrschal achselzuckend, "aber im direkten Kontakt ist er freundlich." Dazu kommt es aber noch nicht gleich. Erst geht es an die Arbeit - für die Wölfe.

Foto: René van Bakel

Im Versuchsraum, einer ehemaligen Orangerie, gibt die ungarische Tiertrainerin Rita Tacacs Cherokee mit leiser Stimme englische Befehle, wie sie jeder Hundehalter kennt: Sitz, Platz, gib Pfote! Diese Fertigkeiten sind notwendig, um körperliche Untersuchungen oder auch das Wiegen für alle Beteiligten einfacher zu gestalten. Cherokee macht zwar alles, aber das ungewohnte Publikum und das Klicken der Kamera lassen bei ihm keine Freude aufkommen.

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Ganz anders Aragorn: Der große schwarze Wolf gehörte zu den ersten vier Welpen, die vor zwei Jahren am Wolfsforschungszentrum, das damals noch in Grünau lag, aufgezogen wurden, und er ist sichtlich begeistert davon, in den Trainingsraum zu kommen. Ganz rasch macht er alles, wozu Tacacs ihn auffordert, doch als die Session vorbei ist und er wieder zu den anderen soll, lässt seine gute Laune schlagartig nach. Auch ein Riesenteller der begehrten Trockenfutter-Pellets kann ihn nicht bewegen, die Schleuse zu passieren, die ihn zu seinen Artgenossen zurückbringt.

Foto: René van Bakel

"Er wird zurzeit total gemobbt", sagt Kotrschal. Der größte Wolf des Rudels ist nämlich in letzter Zeit in der Hierarchie dramatisch abgerutscht und lässt sich sogar von den jüngsten Wölfen dominieren. Immer schon sozial sehr tolerant, wird momentan auch sein Level an Sexualhormonen künstlich niedrig gehalten, um zu verhindern, dass er Nachkommen zeugt. Die sind zwar schon geplant, aber noch nicht jetzt.

Foto: René van Bakel

Erst ein Stück Frischfleisch lockt ihn zurück ins Gehege. Dort werden er und Nanuk abgesondert und demonstrieren, dass die Ernstbrunner Wölfe auch Fremden gegenüber extrem wohlerzogen sind: Sie kommen neugierig näher, und von Tacacs oder Kotrschal mit "Touch" dazu aufgefordert, stupsen sie mit der Schnauze die Hand der Besucher an und lassen sich sogar berühren. Bezeichnend aber, wie sehr ein simpler Maschendraht die Wahrnehmung beeinflusst: Wenn nichts mehr dazwischen steht, wirken die Wölfe größer.

Foto: René van Bakel

In einem anderen Raum der ehemaligen Stallungen: ein Kästchen mit einem Bildschirm. An diesem Touchscreen testen die Forscher die kognitiven Fähigkeiten und das Lernverhalten der Wölfe. Derzeit stehen vor allem Untersuchungen zur Transitiven Interferenz auf dem Programm. Dabei werden den Wölfen Bilder von Objekt-Paaren in verschiedenen Kombinationen gezeigt, von denen eines bei Antippen des Bildschirms mit der Nase zu einer Belohnung führt. Die Objekte haben untereinander eine Hierarchie, das heißt Objekt A ist besser als B, das wieder besser ist als C usw., die spontane Entscheidung im Test, wenn A und C erstmals kombiniert werden, sollte daher A sein. "In einer Hierarchie wie einem Wolfsrudel muss man so was können", erklärt Kotrschal. Können sie auch, die Wölfe.

Foto: René van Bakel

Neben der wissenschaftlichen Arbeit, in der es neben geistigen Leistungen vor allem um die Kooperation der Wölfe untereinander und mit dem Menschen geht, will das Wolfsforschungszentrum auch Maßstäbe der "guten Wolfshaltung" für Zoos und Tierparks setzen. "Für ein hochsoziales und intelligentes Tier wie den Wolf ist es zu wenig, ihn in ein großes Gehege zu setzen und ihn dann die nächsten 17 Jahre zu vergessen", sagt Kotrschal. "Die wollen Beschäftigung, und dazu gehört Kooperation. Unser Rudel ist untereinander sehr entspannt. Wir führen das auch darauf zurück, dass sie mit uns zusammenarbeiten."

Foto: René van Bakel

Das jetzige Gehege ist nur eine Übergangslösung. Zwei jeweils doppelt so große gleich neben dem Eingang des Tierparks Ernstbrunn sind bereits im Entstehen. Dort wird es auch ein riesiges Laufband geben, auf dem alle Wölfe gleichzeitig laufen und gemeinschaftlich jagen können. Die Forscher versprechen sich davon weitere Einblicke in das Sozialleben der Wölfe, indem einzelne Tiere gezwungen werden, sich für den Jagderfolg deutlich mehr anzustrengen als der Rest des Rudels.

Foto: René van Bakel

Ein weiterer Schwerpunkt des Wolfsforschungszentrums ist der Vergleich der kognitiven Fähigkeiten von Wölfen und Hunden. Deshalb führt der Weg nach dem Wolfsgehege zur Hunde-Vergleichsgruppe. Auf einem mit Stroh ausgelegten Auslauf purzeln uns vier circa drei Monate alte Welpen entgegen - "100 Prozent ungarische Promenadenmischungen".

Foto: René van Bakel

Wie die kleinen Wölfe werden auch sie 24 Stunden am Tag durch einen Menschen betreut. Das heißt, dass immer jemand bei ihnen ist - auch nachts. "Bei den Hunden ist das schon entspannter als bei den Wolfswelpen", berichtet Kotrschal, "da kommt man richtig zum Schlafen. Bei den Wölfen muss man doch mehr aufpassen - einmal knabbert dir einer an der Uhr, dann an der Nase." (Susanne Strnadl /DER STANDARD, Printausgabe, 17.03.2010)

Fotos von René van Bakel
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Foto: René van Bakel