Der aus Deutschland stammende, in Amerika lehrende Literaturwissenschafter mit US-Pass Hans Ulrich Gumbrecht über seine alten und neuen Landsleute und seine Vorbehalten gegen zu leichtfertige Urteile. Ein Gespräch mit Michael Freund.
Gumbrich: "Ich teile nicht den Pessimismus vor allem der euro- päischen Intellektuellen." |
Unter Literaturwissenschaftern gilt Hans Ulrich Gumbrecht als einer der Großen, nach einem Studium unter anderem in München, Salamanca und Pavia vor allem als Spezialist für romanische Sprachen. Das hat dem 1948 in Würzburg Geborenen vor 14 Jahren einen Ruf an die kalifornische Stanford University eingebracht. Darüber hinaus äußert sich Gumbrecht, seit vier Jahren amerikanischer Staatsbürger, gerne und provokant auch zu Fragen jenseits seines Fachgebiets – vor allem, wenn ihn die Überlegenheitsgesten der Europäer, insbesondere seiner Landsleute gegenüber der Neuen Welt nervt. In der FAZ meldete er sich seit dem 11. September mehrmals zu Wort und mokierte sich über "soviel Blindheit und soviel kollektive Eitelkeit", die man sich nur leisten könne, wenn man damit rechne, "im Ernstfall doch unter amerikanischem Schutz zu stehen".
Für sein positives Amerika-Bild wurde er immer wieder von Kollegen angegriffen; er selbst stellt immerhin, wie kürzlich in einem weiteren Artikel, auch eine "flagrante Führungsschwäche" des gegenwärtigen Präsidenten fest, die nur die Kehrseite der ständigen Anrufung eines liebenden Gottes sei.
Das Gespräch fand auf dem Stanford Campus statt und wurde durch ein Telefonat aus Paris ergänzt.
DER STANDARD: Ich sehe auf Ihrem Schreibtisch eine Ausgabe des Stanford Daily, "im 112. Jahr", Titelgeschichte: New Policies Monitor International Students, und zwar aus bestimmten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas. Wie passt diese Überwachung zu Ihrem Amerika-Bild?
Gumbrecht: Die Universitäten sind jetzt alle mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert: Non-resident aliens aus bestimmten Ländern können nur unter bestimmten Schwierigkeiten hier bleiben. Die Unis versuchen, dass die Situation für sie genau so normal bleibt wie vorher. Ein anderer Fall: Mein 13-jähriger Sohn geht auf die Junior High School, gestern kam er und erzählte mir, dass zwei Kids, aus dem Iran und dem Irak, in den letzten Wochen massiv rassistisch auftreten, so mit Fuck Israel, fuck you, Jew! Nun ist er Schulsprecher und fühlt sich verpflichtet, etwas zu tun, andererseits hat er Angst. Also nicht physisch, und ich frage ihn, wovor er dann Angst hat. Und er sagt, na ja, was ist, wenn die aus Familien von Selbstmordattentätern kommen. Das ist vielleicht naiv, aber man kann auch nicht so tun, als sei die Situation wie vor dem 11. September. Ich finde zwar die Homeland Security und die Art, wie das vom Weißen Haus benutzt wird, ganz furchtbar und unerfreulich. Aber man muss anerkennen, dass die Lage kompliziert ist. Und sie wird auch nicht einfacher, wenn man bedenkt, dass solche Verfluchungen durch das First Amendment der Verfassung – freie Rede – gedeckt sind und nicht strafrechtlich verfolgt werden können; wobei ich das Amendment sehr schätze.
Noch ein Beispiel: Einer meiner liebsten Studenten ist aus Pakistan. Er wollte über die Weihnachtsferien nach Hause fliegen, hat das aber bleiben lassen, weil die Rückkehr enorm umständlich gewesen wäre.
Die Frage, wie weit diese Regierung geht und wie weit man ihr trauen kann, die ist entscheidend für mich. In der Hinsicht würde ich sagen, dass die demokratischen Kontrollmechanismen hier im Vergleich zu anderen Ländern über 200 Jahre nicht so schlecht funktioniert haben. Der Supreme Court etwa hat zwar die Entscheidung bei den letzten Wahlen zugunsten von Bush getroffen, aber ich glaube nicht, dass er Exzesse dieser Regierung bei der Einschränkung von Rechten legitimieren würde. Mein Freund und Kollege Richard Rorty allerdings sieht das viel pessimistischer.
DER STANDARD: Die Gefahr, die von amerikanischen Linken und von vielen Europäern an die Wand gemalt wird, nämlich dass es grundsätzliche Veränderungen in der US-Innenpolitik geben wird, die sehen Sie also eher nicht?
Gumbrich am Stanford Campus: "Ich kenne Condoleezza Rice aus Zeiten, als sie noch hier auf Stanford Kanzlerin war. Inzwischen ist sie in Washington eine stramme Rechte." |
Gumbrecht: Ich teile nicht den Pessimismus vor allem der europäischen Intellektuellen. Wenn ich etwa Henryk Broder lese, der mal im Spiegel - wohl ironisch – über das moralische Recht der Deutschen zur Kritik geschrieben hat, dann möchte ich als Fußnote anfügen: Die sollten zuletzt kritisieren, ich sehe sie nicht als besonders berufen. Ich find das pathetic, das kann ich nur auf Englisch sagen (etwa: bemitleidenswert).
Ich muss ja deswegen nicht alles lieben, was hier passiert. Es gibt ja wirklich keine Garantie, dass Selbstmordattentäter nur in Israel hochgehen. Was in der Columbine High School passiert ist, was am 11. September passiert ist – das sind schon Gründe, auch hier wachsam zu sein.
DER STANDARD: Wobei Michael Moore in "Columbine" meint, dass das ja vor allem das hausgemachte Problem Amerikas sei.
Gumbrecht: Die beiden Phänomene könnten aber in einer unheiligen Allianz zusammengehen. Jedenfalls meine ich, dass Wachsamkeit angezeigt ist, dass aber mein Vertrauen in die demokratischen Institutionen, zumindest so, wie ich sie von diesem Campus aus erlebe, immer noch recht groß ist.
DER STANDARD: Nochmals zu Ihrem Eindruck, dass die Deutschen hauptsächlich besserwisserische Kritikaster seien: Ich sehe das ehrlich gesagt nicht, mir kommt die Diskussion dort schon eher differenziert vor.
Gumbrecht: Zumindest die Reaktionen auf meinen Artikel (in der FAZ vom 4.10.2002) waren merkwürdig: Wie können Sie nur als Deutscher!? Und es war auch viel von "Empörung" die Rede – ich finde, es gibt eine Art von Moralisierung und von Revanchismus, der mir zwar nicht gefährlich, aber doch unsympathisch und langfristig problematisch erscheint.
Wissen Sie, ich kenne die Condoleezza Rice aus Zeiten, als sie noch hier auf Stanford Kanzlerin war. Inzwischen ist sie in Washington eine stramme Rechte. Aber das Image, dass das alles Leute sind, die aus der Hüfte schießen, das scheint mir doch zu einfach zu sein. Ein schwacher Präsident, bestimmt, der zur Zeit hohe Zustimmung genießt, was ihm mehr Handlungsfreiheit lässt. Ich weiß nur nicht, ob die Situation so grundsätzlich verschieden wäre, wenn Clinton noch Präsident wäre.
DER STANDARD: Was sagen Sie zu dem Vorwurf auf Ihren Beitrag, dass Sie nicht zwischen der Kritik an den Amerikanern und der Kritik an der amerikanischen Regierung unterscheiden würden? Sie haben sich ja nicht mehr dazu geäußert damals.
Gumbrecht: Wahrscheinlich hab ich da wirklich nicht hinreichend unterschieden in meiner Verteidigung. Andererseits muss man sehen, dass diese Regierung eben immer noch hohe Zustimmung genießt. Das kann man dann nicht so einfach auseinanderdividieren. Wenn die approval rate hoch ist, kann man keine Rhetorik fahren: Hier ist das böse Weiße Haus, und dort ist das gute amerikanische Volk.
DER STANDARD: Sie haben sich offenbar schon einige Male über die US-Kritik in Ihrer alten Heimat gewundert.
Gumbrecht: Also im März 2002 war ich im Philosophischen Quartett im Fernsehen zu Gast, und der Peymann eröffnete das Gespräch mit dem Satz: "Ach, wie froh ich bin, dass ich kein Ami bin." Na fein, denk ich mir, congratulations. Dann: "Der einzige Beitrag der Amerikaner zur Weltkultur ist der Kaugummi." Das ist dann natürlich eine Nation, die aus der Hüfte schießt und ohne jeden Grund das Überleben auf dem Planeten aufs Spiel setzt, und dagegen müssen wir uns mit unserer großen deutschen Tradition, was demokratische Institutionen angeht, so gut wie möglich wehren. – Also dieser Art von Argumentation halte ich entgegen, dass es zum Beispiel Geisteswissenschaftlern in Amerika viel besser geht als in Europa. Dass diese Arbeit hier offenbar etwas wert ist. Dass die Familien, die hier 40.000 Dollar pro Jahr fürs Studium abdrücken, nicht alles Millionärsfamilien sind, sondern Leute, wo sagen wir die Großeltern das Ersparte zuschießen – weil Bildung etwas gilt.
DER STANDARD: Wenn wir schon dabei sind: Wie viele der Kinder bekommen auf Stanford Stipendien?
Gumbrecht: Wenn die Familie weniger als – ich weiß nicht, was genau die Rate zur Zeit ist, aber ca. 70.000 Gesamteinkommen haben, dann zahlen die Studenten überhaupt nichts, und full tuition zahlen sie erst ab 200.000 Dollar Familieneinkommen.
DER STANDARD: Zurück zu unserem Thema: Sie leben seit 13 Jahren in den USA und reisen oft nach Europa: Deutschland, Frankreich, Spanien usw. Was geht Ihnen da bzw. dort persönlich am meisten ab?
Gumbrecht: Das eine, was mir in Europa abgeht, das ist völlig unüberraschend und langweilig: Ich denke, dass es drüben keine Uni gibt, die sich mit zehn besten amerikanischen vergleichen könnte. Die Intensität der intellektuellen Umgebung hier, die vermisse ich schon nach zwei Wochen. Das zweite ist viel vager, auf Latein würde es heißen: tua res agitur, also hier geht es um Wirkliches, um dich Betreffendes. Europa kommt mir vor wie diese Miniaturwelt in Klagenfurt ...
DER STANDARD: Minimundus.
Gumbrecht: ... genau, auch in den weichen, positiven, schönen Sachen, aber bestimmte Probleme, die der Zukunft, die, glaube ich, werden hier eher behandelt.
Was Europa angeht, vermisse ich am meisten das Gefühl des Provinziellen, positiv gemeint. Also Städte wie Klagenfurt oder meine Heimatstadt Würzburg. Nicht dass ich da unbedingt leben möchte, wenn ich zurückgehen sollte, aber es gibt eine Qualität der Provinz, die es in den USA nicht gibt.
DER STANDARD: Meinen Sie die Gewachsenheit, den Kulturbetrieb und solche Sachen?
Gumbrecht: Ja, nun, der Kulturbetrieb, ich weiß nicht, diese Stadtschreiber, die es jetzt überall in Deutschland gibt ... Aber ich meine vor allem die ungeheure Differenzierung auf engem Raum. Fußball vermisse ich auch, aber ich habe beschlossen, ich werde Football-Fan.
DER STANDARD: Vermissen Sie zum Beispiel Pavia?
Gumbrecht: Ja, solche Städte am stärksten. Palo Alto ist halt auf andere Weisen interessant, mit seinen phantastischen Restaurants, seiner internationalen Demografie – und seiner demokratischen Haltung im Mikrobereich: Die Leute sind bereit zu helfen, zu zahlen, sich lokal zu engagieren. Das ist überhaupt ein Unterschied zu europäischen Verhältnissen, der oft unterschätzt wird: Für mich ist schon Sacramento (die Hauptstadt Kaliforniens) weit weg, und Washington ist von hier mental weiter entfernt, als es für mich aus Europa war. Es gibt hier mehr Wahlpropaganda für den County Sheriff als für den Präsidentschaftskandidaten.
(Nachtrag aus aktuellem Anlass, am Telefon aus Paris, wo Gumbrecht sich am Collège de France aufhält:)
DER STANDARD: Wie schätzen Sie die Stimmung ein, die Sie in Deutschland und Frankreich mitbekommen?
Gumbrecht: Von drüben hat man ja den Eindruck, dass in der EU der Widerstand gegen den Krieg geschlossen ist. Hier erleben ich als Überraschung, dass es mir in Frankreich als "Ami" besser geht als in Deutschland. Die Gespräche, die ich manchmal provoziere, sind angenehmer. Die Franzosen sagen, dass es eine politische Krise zwischen ihnen und den Amerikanern gibt, wie das eben möglich ist bei einer Jahrhunderte langen Tradition politischer Zusammenarbeit. Es wird hier weniger aus einer moralischen Überlegenheit heraus argumentiert als in Deutschland, und man spricht durchaus auch vom französischen Interesse an den Ölquellen des Irak – es werde dann eben wirtschaftlich schlechter für das Land sein; die Tabuisierung wirtschaftlicher Interessen ist ja sowieso unsinnig.
In Frankreich gibt es auch ein stärkeres Bewusstsein über die Vorgeschichte vor dem Zweiten Weltkrieg. Nun ist es zwar klar, dass Bush ein schwacher Präsident ist, doch ich kriege erstaunlicherweise selten den Brustton der geistigen Überlegenheit zu hören. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.4.2003)