Evelyn Schödl (45) ist Geschäftsführerin von GlaxoSmithKline in Österreich. Die Sportwissenschafterin begann ihre Karriere in der Pharma-Industrie bei Grünenthal, wechselte 1998 zu Smith Kline Beecham, das wiederum 2000 mit Glaxo Wellcome fusionierte. Die Mutter einer 15-jährigen Tochter lebt in Wien.

Foto: Standard/Regine Hendrich

Gerald Gartlehner (41) ist Mediziner und arbeitet als Klinischer Epidemiologe an der Donau-Universität Krems. Seine Forschungsschwerpunkte: Evidenz basierte Medizin, Effektivitätsbewertung von Arzneimitteln, systemische Übersichten und Meta-Analysen. Gartlehner ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Wien.

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Standard: Die Teilnahme an klinischen Studien, in denen neue Medikamente zum Einsatz kommen, ist oft mit großen Hoffnungen verbunden. Wie gut wird aufgeklärt?

Schödl: Es gibt genaue Richtlinien für die Aufklärung. Wir informieren über den potenziellen Nutzen eines Medikaments und die möglichen Risiken, die sich in den ersten Phasen einer Medikamentenentwicklung abgezeichnet haben. Teilnehmende wissen, was ein Placebo ist und dass es sein kann, dass sie nur ein Scheinmedikament bekommen.

Gartlehner: Aufklärung ist der Schlüssel. Das stimmt. Ich denke aber, dass zu wenig über die vielen Unsicherheiten aufgeklärt wird, die mit der Teilnahme an Studien, in denen neue Wirkstoffe getestet werden, verbunden sind. Denn viele heute bereits zugelassene Medikamente wirken ja unter Umständen gar nicht so gut. Wenn ein Medikament einem von drei Patienten hilft, dann wird das schon als Erfolg gewertet. Bei Zulassungsstudien zu neuen Wirkstoffen sind die Schadenspotenziale oft gar nicht bekannt. Das darf man nicht vergessen. Ich sehe aber auch die Schwierigkeit. Es ist sicher nicht einfach, einen Schwerkranken mit Statistik, Risiken und potenziellen Unsicherheiten zu konfrontieren. Hier hängt es von der Empathie und dem Geschick des behandelnden Arztes ab.

Schödel: Vonseiten der Industrie versuchen wir, durch präzise Vorgaben sehr spezifische Patientengruppen für Zulassungsstudien zu rekrutieren - das minimiert Risiken.

Gartlehner: Einen Kritikpunkt habe ich da aber: Ärzte bekommen pro Studienteilnehmer Geld und bemühen sich deshalb um viele Patienten. Der Nachteil: Ausgewogene Aufklärung mit der Darstellung aller Risiken steht dem Anreiz, möglichst viele Patienten zu rekrutieren, entgegen. Gut aufgeklärte Patienten entscheiden sich eher gegen die Teilnahme.

Standard: Wie spannend ist die Auswertung von Studienergebnissen für die Pharmaindustrie?

Schödl: Extrem spannend. Die eigentliche Evaluation macht ein Joint-Steering-Comitee, in dem Mitarbeiter aus dem Unternehmen und unabhängige Forscher sitzen. Manchmal gibt es davor schon Zwischenauswertungen, die Trends zeigen.

Standard: Was gilt als Erfolg?

Schödl: Wenn die Hypothese, die man zu Beginn einer Studie aufgestellt hat, bestätigt wird.

Gartlehner: Optimalerweise ist das so. Aber es gibt Grauzonen. Wenn die Hypothese einer Studie nicht bestätigt wird, kann es sein, dass man dann eben nach anderen Vorteilen sucht. Das passiert oft. Dafür wälzt man die Daten solange, bis man eine statistisch relevante Subgruppe findet. Data-Dredging ist der Fachterminus dafür. Wer heute in seriösen Journalen publizieren will, muss seine Studienziele deshalb im Voraus registrieren.

Schödl: Datenmanipulation gibt es bei GlaxoSmithKline (GSK) nicht. Wir publizieren bei Zulassung alle Daten und bei Studienbeginn die Ziele.

Gartlehner: Es ist aber schon auch so, dass die Wirksamkeit allein kein Kriterium ist. Die Bilanz zwischen Nutzen und potenziellem Schaden muss zugunsten des Nutzen stimmen, Netto-Benefit ist der Fachbegriff. Zusätzlich muss ein Arzneimittel auch aus ökonomischer Sicht vertretbar sein. Das ist eine Dynamik, die das gesamte Gesundheitswesen erfasst hat.

Standard: Wie offen kommunizieren Pharmafirmen?

Schödl: Ich kann nur für GSK sprechen. Wir haben 2004 ein Clinical Study Register etabliert, das öffentlich über Internet zugänglich ist. Vorerst wurden dort nur Ergebnisse von Studien veröffentlicht, seit 2008 aber auch Studienprotokolle, also Dokumente, die vor Beginn einer Prüfung Aufschluss über die Ziele geben. Seit 2009 publizieren wir auch alle Daten zu laufenden Überwachungsstudien und Meta-Analysen, unabhängig davon, ob Ergebnisse positiv oder negativ sind. Wir veröffentlichen sogar Daten von Molekülen, die wir nicht für die Medikamentenentwicklung weiterverfolgen, damit andere nicht denselben Erkenntnisprozess durchmachen müssen. GSK setzt voll auf Transparenz, unser Register hat 14.000 Zugriffe pro Monat.

Standard: Warum macht GSK das?

Schödl: Die Pharmaindustrie ist immer wieder unter Beschuss, wir müssen transparenter werden und sehen uns hier als Vorreiter.

Standard: Wirken sich negative Ergebnisse auch negativ auf den Börsenkurs aus?

Schödl: Das kann sich negativ auswirken. Am Ende geht es aber immer um das Wohl von Patienten, deshalb dürfen wir keine Risiken eingehen. Niemand darf negative Ergebnisse verstecken.

Standard: Nutzen Sie als Wissenschafter dieses Angebot?

Gartlehner: Ja, ich schätze es und finde es vorbildhaft. Aber historisch betrachtet ist es natürlich nicht aus reiner Selbstlosigkeit entstanden, sondern aufgrund einer Klage in den USA. Der Staatsanwalt Eliot Spitzer klagte GSK, weil der Konzern im Rahmen mehrerer Studien zu Antidepressiva bei Kindern Daten missklassifiziert oder nicht publiziert hatte. Ein erhöhtes Suizidrisiko bei Kindern, die das GSK-Medikament einnahmen, wurde nicht öffentlich gemacht. Es endete mit einem außergerichtlichen Vergleich. Dabei verpflichtete sich GSK zu diesem Register und einer Zahlung von 2,5 Millionen Dollar.

Schödl: Das war der Beginn, wir gehen allerdings heute weit über die damaligen Forderungen hinaus und sehen es auch innerhalb der Branche als Auftrag, für mehr Transparenz zu kämpfen.

Standard: Wie transparent sind andere Firmen in dieser Hinsicht?

Gartlehner: Bei Eli Lilly ist man noch relativ offen, aber sonst gibt es wenig Bereitschaft, Daten umfassend zu veröffentlichen. Wir machen regelmäßig Effektivitätsauswertungen und bitten Firmen um Dossiers. Manche machen mit, viele nicht, manche schicken auch nur Werbebroschüren. Zu 95 Prozent ist das, was wir bekommen, nicht verwertbar. Wir haben oft das Gefühl, man flutet uns mit Information ohne Inhalt, um uns abzuspeisen.

Standard: Was wird so verhindert?

Gartlehner: Ich denke, dass Pharmafirmen überwiegend von Marketingleuten und weniger von Wissenschaftern dominiert werden. Und die fürchten als gewinnorientierte Unternehmen nichts mehr als finanzielle Einbußen. Deshalb ist es so wichtig, dass unabhängige Institutionen ohne irgendwelche Interessen die Ergebnisse der Pharmastudien überprüfen. NICE macht das in England oder ARH in den USA. Auch wir an der Donau-Universität sind frei von kommerziellen Interessen. Objektivität ist wichtig. Sie kommt Patienten zugute, denn die Pharmaindustrie wendet immer noch viel Geld in Marketing für Medikamentenwerbung auf.

Standard: Haben Sie ein Beispiel?

Gartlehner: Vioxx, ein Schmerzmedikament, das bei bestimmten Personen das Herzinfarktrisiko erhöht, ist ein gutes Beispiel. Merck, der Hersteller, hatte ungefähr fünf Jahre lang Hinweise in diese Richtung, verschwieg sie aber. Erst eine Meta-Analyse hat diese Nebenwirkung ans Tageslicht gebracht. Im Endeffekt musste Vioxx deshalb vom Markt genommen werden.

Schödl: Ich beobachte in dieser Hinsicht schon einen Wandel innerhalb der Industrie. Es ist nicht alles vom Marketing getrieben. Mit mehr Transparenz wäre Vioxx vielleicht auch noch am Markt, eben mit Einschränkungen, denn an und für sich ist es ein gutes Medikament. Es ist sehr leicht, der Pharmaindustrie böse Absichten zu unterstellen.

Gartlehner: Der Fairness halber muss man sagen, dass Nebenwirkungen sich unter Umständen in den Zulassungsstudien gar nicht abzeichnen, weil sie zu selten sind, als dass sie bei der begrenzten Patientenzahl auftreten. Erst in der breiten Anwendung eines Medikaments kristallieren sie sich heraus. Deshalb ist Transparenz mitunter sogar lebenswichtig.

Schödl: Sieht GSK genauso.

Standard: Wären für den medizinischen Fortschritt nicht auch Misserfolge interessant?

Gartlehner: Dass sie nicht publiziert werden, ist ein allgemeines Phänomen und gilt nicht nur für die Pharmaindustrie, sondern für die gesamte Wissenschaft.

Schödl: Aus Fehlern lernt man.

Standard: Kontrolliert das Netzwerk der evidenzbasierten Mediziner die Industrie?

Gartlehner: Wir arbeiten international etwa im Rahmen der Cochrane Collaboration und führen Meta-Studien zu Medikamenten durch, die dann Ergebnisse bringen. Die evidenzbasierte Medizin gibt es erst seit Anfang der 90er-Jahre, da gibt es viel Dynamik.

Standard: Nehmen Sie die EBM als Prüfstein wahr?

Schödl: Unabhängige Institutionen sind sinnvoll, auch aus ökonomischer Sicht.

Gartlehner: Es geht nicht anders, denn die Kosten explodieren, und bald ist das Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar.

Standard: Wie transparent ist die Zusammenarbeit zwischen Pharmaindustrie und Ärzten?

Gartlehner: In den USA werden Beratungshonorare für Ärzte öffentlich gemacht. Jeder Arzt legt auch auf Konferenzen offen, für wen er arbeitet. Ich finde das sehr positiv.

Schödl: Wir wollen das noch heuer in Europa einführen. In den USA haben wir das gemacht und publizieren diese Ärzte-Liste auf unserer Website.

Standard: Rechnen Sie mit Widerstand aus der Ärzteschaft?

Schödl: Es ist ein Risiko, aber ich denke, der richtige Schritt. Manche Ärzte könnten es als Verletzung des Datenschutzes sehen, aber ich denke, dass wir diese Transparenz auch den Patienten schuldig sind.

Gartlehner: Da werden viele Ärzte dagegen sein. Sich von Pharmafirmen einladen zu lassen gilt bei uns als Kavaliersdelikt. Es gibt immer Möglichkeiten, den Code of Conduct zwischen Ärzten und Pharmabranche zu umgehen.

Standard: Die Pharmaindustrie finanziert aber mangels staatlicher Mittel die Fortbildung von Ärzten.

Gartlehner: Das stimmt und ist auch ein großes Problem. Die Regelung zu mehr Transparenz, so wie in den USA, wäre aber trotzdem möglich. Ärzte sollten nicht käuflich sein, sondern nach objektiven Kriterien entscheiden.

(Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 29.3.2010)