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Mir fehlen die Worte: Alle Welt schaut auf die katholische Kirche, und es gibt tausende Priester, die für ihren Beruf leben - Ich kann trotzdem nicht mehr

Foto: APA/Oliver Berg

Bin gerade eben in Güssing gewesen, Güssing im Südburgenland. Das ist eine Kleinstadt, die Bezirkshauptstadt ist und Sitz der Batthyánys war. Es gibt eine klobige Burg, auf einem steilen Hügel (ein erloschener Vulkan): Da kennt man sich gleich aus mit oben und unten, und zu wem man aufschauen muss. Zu Allerheiligen, da man ja Kasernenstadt ist, marschieren Angehörige des Bundesheers beim Kriegerdenkmal auf und ab, in voller Montur, der Pfarrer ist auch dabei. Dann gedenkt man der armen Gefallenen. Die Redewendung vom Ins-Gras-Beißen kommt, glaube ich, aus der Bewegung eines solchen Fallenden, wenn er niedergerissen wird, und der Mund reißt sich ihm auf. Mit der Fresse ins Feld oder in die Wiese oder wo auch immer einen die Mörderkugel getroffen hat.

In Güssing steht auch ein Kloster, die Franziskaner sind dort zu Hause. Man erinnert an Clusius, den großen Gelehrten aus dem Mittelalter, den Naturkundler. Man erinnert auch an den Güssinger Seligen, den Arzt Ladislaus Batthyány, der ein guter und gütiger Mensch gewesen zu sein scheint, ein Arzt der Armen. Chirurg und Augenarzt. Auf dem Denkmal steht der Spruch: "Wenn du glücklich sein willst, mache andere glücklich." Daran ging ich heute auf dem Weg zur Post vorbei. Auf dem Rückweg sah ich das Kloster von der anderen Seite und einen Schaukasten, in dem gerade die Fastenzeit Thema ist. Ich warf einen flüchtigen Blick hinein und erhaschte mit dem linken Auge den ersten Satzteil auf einem kleinen Plakat. Gott suchen, stand da.

Das würgte mich. - Ich werde in den nächsten Tagen aus der katholischen Kirche austreten. Das mag nicht weiter verwundern (manche halten mich für seltsam, weil ich das nicht schon längst getan habe). Aber mich würgte es. Ein Griff an die Kehle. - Als ich Kind war und Jugendliche, war Gott mein Hobby. Das klingt blasphemisch: ist es aber nicht, wenn ich bedenke, dass nicht wenige Menschen mein Schreiben, das ich als wesentlichen Teil meines Lebens betrachte, mein Hobby nennen.

Ich war von Gott durchdrungen. Ich habe mit Inbrunst gebeichtet (und bin nie unangenehm befragt worden, mir ist nie auf den Leib gerückt worden), ich habe die Firmung als ein inneres Großereignis erlebt. Ich habe Gott angefleht um Gesundheit für meinen herzkranken Großvater (der heuer 83 wird). Ich liebte es, im Winter die Roraten zu besuchen, die wöchentlichen Frühmessen im Advent: um sechs Uhr morgens durchs Stockdunkel zur Kirche zu wandern - der Pfarrer hat uns Kinder nach der Messe im Pfarrhof mit Salzstangen bewirtet, bevor wir zur Schule mussten. Ich liebte (und liebe immer noch) die Osterliturgie und den Gesang des örtlichen Kirchenchores zur Passion Christi. Ich finde es bombastisch, dass der leidende Mensch, wie er am Kreuz ausgeblutet ist, einen so würdigen Platz in unserem kulturellen Gedächtnis gefunden hat. Die Figur am Kreuz ist für mich das größte Ecce homo.

Ich taumle um diesen Gott herum. Ich schleudere unbedarfte Gebetsfetzen aus mir, wenn ich nicht mehr kann, und ich empfinde kreatives Denken als eine Form von Gebet. Wie auch das Sichversenken in die Betrachtung der Natur. Oder der Passanten, wenn ich auf dem Gehsteig in einem Wiener Schanigarten sitze und einen weißen Spritzer trinke. Ich bin reichlich säkular geworden und skeptisch genug, um Adolf Holls These von der Erschaffung einer Gottfigur durch den frühkatholischen Männer-und-Priester-Bund zu glauben. Um zu glauben, dass Religion Politik ist und Show; _Einmümmelung, Agitation und Machtinstrument. Ich kann gut nachvollziehen, dass Gott ein Spiegelbild des Über-Ichs ist, das sich der Mensch selbst erschaffen hat. Aber ich möchte trotzdem glauben. Ich wünsche mir, dass es Gott gibt. Auch wenn mir bewusst ist, dass ich mich damit einer gewissen Kindlichkeit aussetze. Einer Vatersehnsucht, vielleicht. Dass ein Teil meines Denkens geprägt ist von der Sehnsucht nach einer Möglichkeit von Jenseits.

Ich musste lachen, als, nachdem Joseph Ratzinger zum Papst gewählt und der weiße Rauch in den Himmel gepumpt worden war, Benedikt XVI. vor rotem Samt meinte, er sei nur ein einfacher Winzer im Weingarten des Herrn (ich sah das im Fernsehen). Und trotzdem habe ich diese Kirche als meine Kirche empfunden, als ein Zuhause. An dem man sich so reibt wie am Elternhaus. Das aber Teil der persönlichen Geschichte ist. Nicht abzustreifen.

Bis jetzt. - In einer Kettenreaktion gingen im stetigen Strom der Medien, die uns mit ihren schnellen Bildern und ihren Meinungshäppchen überschwemmen und die Atemlosigkeit zum Normalzustand machen, wie saure Blasen nach und nach die Meldungen von sexuellen Übergriffen in der Kirche hoch. Erst der Fall einer Schule. Dann noch einer. Dann dieser Pfarrer. Dann jener. Die Magazine brachten das Thema auf die Titelblätter. Man rief nach einer Stellungnahme des Papstes.

Ich habe schon lange kein Thema mehr als so durchdringend vorhanden wie dieses empfunden. Es ist überall. Es geht mir ans Mark. Vieles widert mich an in letzter Zeit, die neidische Geiferei um die Mindestsicherung, als sei es ein Verbrechen, ein paar hundert Euro vom Staat zu bekommen, um im Lebenskampf zu bestehen (auf dem Aktienmarkt zu zocken gilt weiter als das Fairste und Gescheiteste überhaupt); das brenzlige Spiel der burgenländischen SPÖ um den rechten Rand - im Zuge der Debatte um Eberau; die Tatsache, dass selbst im linken Feld - bei den Grünen und sogar beim Augustin - die Organisationsentwickler und die Effizienzsteigerer und die Verschlanker eingefallen sind. Aber das Widerwärtigste ist die Ausbeutung der Sexualität anderer durch Mitarbeiter der katholischen Kirche.

Ich-Verkümmerte

Beim Blick auf den seligen Ladislaus Batthyány in Güssing und den Sinnspruch auf dem Sockel des Denkmals ist mir ein Brennstrahl durchs Herz gefahren. Du wirst glücklich, wenn du andere glücklich machst: Das ist die schöne Erkenntnis eines Arztes, der sich seinen Mitmenschen verpflichtet fühlt in der kompetenten und liebevollen Ausübung seines Berufes. Ja. - Das ist aber auch ein Spruch, den Generationen von Frauen imaginär über dem Bett hängen hatten. Und über dem Herd. Die keinen Beruf hatten, den sie kompetent ausüben konnten. Frauen, die als Vertreterinnen ihres Geschlechts durch die Geschichte Erfahrungen vom Scheiterhaufen bis zur Zwei- und Dreifachbelastung hatten und haben; die wissen, was es heißt, wenn Bildung nur „den anderen" freisteht, nämlich Männern - oder wenn man trotz Ausbildung nicht vom Fleck kommt. Frauen, die auch 2010 um ein Drittel weniger verdienen als Männer - inklusive dem Kunstsektor. Auch über dem Kopf der Frau von heute schwebt unsichtbar dieses Motto: Mach andere glücklich und sei selbst dadurch glücklich. Bau sein Glück in deines ein. Putz hinter deinem Mann her. Seine Arbeit ist das Wichtigste. Das ist kein Schnee von gestern: Man sehe sich um in den Beziehungen, die fortschrittliche, coole, kreative Paare leben.

Aber da ist noch was in dieser Selbstlosigkeit. Da gibt es noch die berufsbedingte Selbstlosigkeit der katholischen Priester (seine Arbeit ist das Wichtigste; zu dieser Form von Arbeit haben Frauen keinen Zutritt, und einer Clique von Berufsgottverwaltern gelingt es nach wie vor, diese Regel auf der ganzen Erde aufrechtzuerhalten). Ich blickte auf Ladislaus Batthyány und dachte, indem sich mehrere Gedanken übereinanderschoben: dass die Selbstlosigkeit mancher Priester so weit geht, dass sie sich selbst tatsächlich als Ausgelöschte betrachten. Und als Hyper-Selbstlose sehen sie auch in allen anderen solche Selbstlosen. Ich-Verkümmerte. Gottmaterial, das es als edel betrachtet, das eigene Ego extrem zu beschneiden. Gebot der Demut! Und des Gehorsams. Ich, Herr, bin nur ein Wurm, kein Mensch (das ist Teil des Kreuzweggebetes, nachzuschlagen im Gotteslob). Und bei diesen Priestern führt die Selbstlosigkeit zur Selbstvergessenheit; zur Unfähigkeit, den Kreis der Empathie so auszudehnen auf den anderen, dass man ihn (oder sie) in seiner (oder ihrer) Wesenheit begreift. Man schließt ihn (oder sie) vielmehr ein in den Kreis der Empathie wie in ein Gefängnis. Das Gefängnis der Selbstlosigkeit. Und dann kann man machen, wohin einen das treibt, dessen Vorhandensein nicht betrachtet, nicht wahrgenommen werden darf: die Sexualität.

Was mich ins Mark trifft, ist die Widerlichkeit dieses Mechanismus. Was mich traurig macht, ist das Denken an die verschwendeten Leben der Täter. Sie haben ihr Ziel verfehlt. Sie sind an einer Machtstruktur so sehr gescheitert, dass eine an sich pathologische Verhaltensregel ebendieser Struktur ihre naturgegebenen Bedürfnisse in kriminelle Energien umschlagen hat lassen. Bei sexueller Gewalt in der Familie ist auch eine Machtstruktur zu beobachten, aber die Komponente der Selbstlosigkeit fällt weg.

Ich weiß schon, alle Welt schimpft auf die Lehrer, und es gibt tausende Lehrer, die für ihren Beruf leben. Alle Welt schaut auf die katholische Kirche, und es gibt tausende Priester, die für ihren Beruf leben. Ich kann trotzdem nicht mehr. - Als Schriftstellerin habe ich manchmal das Gefühl, ein bestimmter Text müsse sich auflösen; aufbröseln und verschwinden. Dieses Gefühl stellt sich dann ein, wenn etwas dermaßen ungeheuerlich ist, dass man es nicht mehr in Worte fassen kann, in diese lautlichen Gespinste, an die wir im Lauf der Zeit unsere Bedeutungen gehängt haben. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich, und mein Mark liegt offen da. Und ich sehe mehr und mehr, was von den eingeschliffenen Redensarten alles abgeschabt wurde. Ich bücke mich nach den Spänen. Ich verstehe so gut, was es heißt, wenn man sagt: Mir fehlen die Worte. (Katharina Tiwald/DER STANDARD, Printausgabe, 3./4. April 2010)