Wien - Da ist die Geschichte von Blessing, einer jungen Afrikanerin. Ihr Traum: Europa. Da ist die Geschichte von Boubacar, einem Mann um die zwanzig, der von Mali in die vermeintlich bessere Welt aufbricht. Zwei hoffnungsvolle Menschen, die einander kennenlernen und Kinder bekommen, Schicksal und Ziel teilen und dennoch keine Zukunft haben. Es ist eine fiktive und doch wieder wahre Geschichte, die Autor Kevin Rittberger unter dem Titel Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung dramatisierte. Zusammen mit Regisseurin Felicitas Brucker erfuhr der mythologische Stoff rund um die berühmte Seherin, der niemand Glauben schenkte, eine gelungene Uraufführung im Wiener Schauspielhaus.
Es geht um afrikanische Flüchtlinge und deren Traum vom besseren Leben in Europa. Aber Kassandras Ruf verhallt ungehört, ihre Warnungen sind vergebens. Die Tragödie ist zugleich ein Lehrstück und möchte den Blick, das Sehen schulen.
Kassandra muss hier nicht als Person wahrgenommen werden, sie ist vielmehr eine höhere Instanz und bleibt letztlich im Hintergrund. Wie Baboucar - glänzend dargestellt von Vincent Glander innerhalb eines tollen Ensembles - und Blessing (Nicola Kirsch) begeben sich viele tausend andere Menschen auf diese Reise. Das ersehnte Spanien (samt einer Zukunft im Fußball) dominieren die erste Halbzeit des zweistündigen Abends.
Der umfassenden Faktenzusammenführung des Autors gingen lange Recherchen voraus, die sich in parallelen Handlungssträngen äußern. Sie stärken den Anspruch, die Ungerechtigkeit sachlich aufzuzeigen und bilden Europa als Festung ab: Manchen gelingt die Flucht, die meisten aber schiebt die Frontex-Behörde ab, und Unzählige überleben die Überfahrt nicht: Das Mittelmeer wird zum Massengrab, auf dessen Grund eine Kamera im Gedächtnis aller Ertrunkenen filmt.
Medien-Kritik bestimmt die zweite Hälfte des Stücks. Weißgepuderte Reporter fragen sich, wie neue Perspektiven zu den althergebrachten Bildern gefunden werden können. Am Ende ist die Bretterbühne (Gestaltung: Frauke Löffel) verwüstet. Und kein Fußballtraum ging in Erfüllung. Kräftiger Applaus für Regie und Ensemble. (Sebastian Gilli, DER STANDARD/Printausgabe, 03./04.04.2010)