WikiLeaks-Sprecher Daniel Schmitt

Foto: WikiLeaks

Daniel Schmitt hat Stress: "Die Leute rufen pausenlos an, ich weiß manchmal gar nicht mehr genau, mit welcher Zeitung ich gerade gesprochen habe." Der Berliner, Anfang dreißig, Stoppelfrisur und Hornbrille, ist dieser Tage ein gefragter Mann. Gemeinsam mit Gründer Julian Assange ist er einer von zwei Sprechern von WikiLeaks, einer dezentralen und international vernetzten Organisation, die es Dissidenten jedweder Natur erlaubt, anonym entlarvende Dokumente im weltweiten Netz zu veröffentlichen. Seitdem WikiLeaks am Montag die Aufzeichnungen der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers veröffentlichte (derStandard.at berichtete), ist die Organisation auch einer breiteren Öffentlichkeit ein Begriff. Ein hochrangiger US-Militärbeamter bestätigte indes laut Agenturmeldungen die Echtheit des Materials, das US-Verteidigungsministerium hat sich offiziell bisher noch nicht dazu geäußert. derStandard.at hat Daniel Schmitt telefonisch erreicht und zum Interview gebeten.

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derStandard.at: Warum haben Sie eine geschnittene Version des Videos publiziert? Die Originalversion sagt doch einiges über den Kontext des US-Angriffs aus, etwa, dass es in diesem Stadtviertel zuvor zu Schießereien gekommen war.

Daniel Schmitt: Die geschnittene Version wurde ganz einfach aus Gründen der Akzeptanz publiziert. Die meisten Leute haben mit einem 38 Minuten langen Video ein Problem. Deshalb gibt es diese kurze Version, in der die wichtigsten Bilder drinnen sind. Ich gehöre allerdings selbst nicht zu dem Produktionsteam, das den Film geschnitten hat. Warum die genau so vorgegangen sind, kann ich Ihnen nicht sagen.

derStandard.at: Indem Sie die Seite, auf der das Irak-Video veröffentlicht wurde, "Collateral Murder" nennen, gehen Sie doch einen Schritt weiter als bloß zu dokumentieren, Sie kommentieren, nehmen eine Seite ein. Wo endet Ihrer Meinung nach der Auftrag von WikiLeaks?

Schmitt: "Collateral Murder" ist ein Projekt, an dem WikiLeaks beteiligt ist und das über unsere Infrastruktur läuft, um so etwas publizieren zu können, dem Ansturm der Leute standzuhalten und auch aus rechtlichen Gründen, etwa, wenn die Amerikaner versucht hätten zu zensieren. Man muss aber auch ganz klar sehen, dass es sich um ein journalistisches Produkt handelt, an dem Journalisten, Dokumentarfilmer und Menschenrechtsexperten beteiligt waren. Und "Collateral Murder" bezieht deshalb auch klar Stellung. WikiLeaks selbst ist aber noch immer eine Organisation, die nur publiziert. Je weniger wir kommentieren, desto besser. Darum ist das Video auch auf einer eigenen Domain gehostet und hat nicht direkt etwas mit dem WikiLeaks-Projekt zu tun.

derStandard.at: Das Video ist fast drei Jahre alt, wie erklären Sie sich die lange Zeit, die bis zur Weiterleitung an WikiLeaks vergangen ist?

Schmitt: Das ist eine gute Frage, die wir aber nicht beantworten können, weil wir von den Quellen kein Feedback bekommen.

derStandard.at: Das heißt Sie kennen Ihre Quellen?

Schmitt: Wir sprechen grundsätzlich nicht über unsere Quellen, ich kann Ihnen nicht sagen ob wir sie kennen oder nicht.

derStandard.at: Wie schwer war es, die Verschlüsselung des Bordvideos durch das US-Militär zu umgehen?

Schmitt: Es ist eine Frage der Ressourcen, die man zur Verfügung hat. In der Regel dauert so etwas mehrere Wochen. Darum haben wir auch in den letzten Monaten dazu aufgerufen, uns von wissenschaftlicher Seite zu unterstützen, etwa im Universitätsumfeld, wo es richtige Hochleistungs-Cluster gibt. Sie müssen sich vorstellen, dass militärische Sicherheit ein mindestens zwölf Stellen langes Passwort bedeutet, das aus dem Alphabet groß- und kleingeschrieben sowie aus Ziffern und Sonderzeichen besteht. Das ergibt viele Millionen Möglichkeiten, die im Prinzip alle von vorne bis hinten durchprobiert werden müssen. Dafür gibt es natürlich Software, die aber zum Teil erst geschrieben werden muss. Für jeden Fall den wir bekommen, müssen wir eine solche Infrastruktur erst schaffen. Natürlich wird das mit der Zeit leichter, weil man auf Kontakte zurückgreifen kann.

derStandard.at: Nach welchen Kriterien wählen Sie die Beiträge aus, die Sie dann veröffentlichen?

Schmitt: Wir bekommen extrem viel Material zugespielt, ein Großteil davon wird auch veröffentlicht. In den ersten drei Jahren haben wir weit mehr als 1,5 Millionen Dokumente publiziert, der Anteil dessen, was nicht veröffentlicht wurde, beläuft sich im Promillebereich. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Dokumente, die auch wichtig sind, aber von uns nicht analysiert, kommentiert und vielleicht sogar exklusiv vergeben werden, in den Mainstream-Medien relativ schnell untergehen. Das ist natürlich auch eine ökonomische Angelegenheit, weil Medien ungern in Recherche investieren, wenn die Information frei verfügbar ist und die Konkurrenz vielleicht einen Tag schneller damit an die Öffentlichkeit geht. Das macht es oft kompliziert.

derStandard.at: Wie überprüfen Sie die Authentizität der Beiträge?

Schmitt: Es gibt für jedes Dokument eine technische Prüfung, wir haben technische Forensiker, die an einem digitalen Dokument sehen können, ob die Metadaten dieses Dokuments verändert wurden, etwa mit einem Grafiktool. Es gibt sehr viel, was man unabhängig vom Inhalt rein technisch über die Echtheit eines Dokuments aussagen kann. Wir haben ein Netzwerk von mehr als 800 Kontakten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Anwälte, die wir für inhaltliche Fragen anschreiben können. Also Leute, die extrem geschickt Fragen stellen können und wissen, wie man gute Antworten bekommt. Diese Leute wissen nicht, wer außer ihnen selbst an einer Prüfung beteiligt ist. Die Summe all dieser Ergebnisse gibt dann ein sehr gutes Bild über die Authentizität eines Dokuments.

derStandard.at: Läuft Ihre Organisation nicht Gefahr, zu einer Plattform für Verleumdungen zu werden?

Schmitt: Das Problem besteht natürlich, ist in der Praxis aber nicht besonders groß. Die Frage ist auch, wo beginnt Verleumdung? Kritiker werfen WikiLeaks vor, wir würden Schmutzgeschichten frustrierter Angestellter veröffentlichen, die sich an ihren Chefs rächen wollen. Ich finde, wenn an diesem Schmutz etwas dran ist, ist es egal, aus welchen Motiven sich jemand an WikiLeaks wendet. Es geht ja um faktische Dokumente, wenn diese belegbar echt sind, ist der Grund vollkommen sekundär. Als Grundregel gilt: Wir publizieren nichts, was eine Quelle selbst verfasst hat. So etwas fliegt in der ersten Runde raus und steht auch ganz klar auf unserer Website. So etwas bekommen wir deshalb auch nicht oft. Wir verarbeiten nur Dokumente, die von einer Behörde rausgegeben wurden oder Bestandteil einer offiziellen Kommunikation sind, keine First-Hand-Aussagen, die nicht überprüfbar sind.

derStandard.at: 2008 tauchten auf WikiLeaks auch die Namen und Wohnadressen von Mitgliedern der rechtextremen British National Party (BNP) auf. Wer wäre Ihrer Meinung nach schuld, wenn einer dieser BNP-Mitglieder vor seinem Haus erschossen wird?

Schmitt: Das ist eine rein hypothetische Frage. Ich würde sagen, wenn so etwas passiert, ist die Gesellschaft schuld! Es sollte natürlich nicht so sein, dass jemand für seine politische Zugehörigkeit erschossen wird. Wenn ich sehe, dass mein Nachbar dort Mitglied ist, würde ich mit ihm reden und ihn fragen, was ihn dazu bewogen hat. Das ist ja auch eine Debatte, die wir nach Veröffentlichung dieser Listen beobachtet haben.

Zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens konnte diskutiert werden, warum diese Leute dort Mitglied sind. Diese Leute (BNP-Mitglieder, Anm.) hatten, auch wenn sie vielleicht dazu gezwungen wurden, zum ersten Mal eine Stimme. Jemand hat sich dafür interessiert, warum sie von den übrigen Parteien so frustriert sind, welche Ängste sie haben, dass sie sich an eine rechtsextremistische Partei wenden. Das ermöglichte eine ganz andere Debatte. Wichtig an der Debatte ist, dass Menschen lernen, verantwortlich mit Informationen umzugehen.

derStandard.at: Damit bedient sich WikiLeaks doch derselben Methoden wie jene, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Auch Neonazis veröffentlichen Wohnadressen von politischen Gegnern. Wenn diesen etwas passiert, wäre doch auch klar, wer daran schuld ist, nämlich die Rechtsextremisten.

Schmitt: Das Problem dabei ist: sobald wir etwas veröffentlichen und damit beginnen, daran herumzuschwärzen, würde man uns vorwerfen zu manipulieren. Diese Debatte wird bei uns auch häufig geführt. Der einzige Weg, unsere Glaubwürdigkeit und unsere Neutralität zu bewahren, ist nicht zu bewerten, was relevant oder nicht relevant ist oder was eine Grenze überschreitet und was nicht. Diese Entscheidung überlassen wir der Öffentlichkeit und den Medien. Bisher hat das auch zu keinem Übergriff geführt, wir haben von der BNP mittlerweile drei Mitgliederlisten aus drei verschiedenen Jahren publiziert.

derStandard.at: Das heißt, Sie würden umgekehrt auch Privatadressen von Antifaschisten im Netz publizieren?

Schmitt: Ja natürlich. Wir bewerten das nicht, wir sind vollkommen neutral. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 7.4.2010)