Auch fast 20 Jahre nach dem Ende der Atomtests leidet die Bevölkerung an den Folgen.
Sonntag kurz vor zehn Uhr: Nina Kalesnikowa holt nicht etwa ihre beste Tischdecke für das Sonntagsmahl aus dem Kasten, sondern Zeitungspapier. Sorgsam klebt sie es auf die Fensterscheiben und überprüft, ob die Ofentüre auch fest verschlossen ist. Gleich wird eine gewaltige Explosion die Erde erschüttern.
"Die Erinnerung daran verfolgt mich mein ganzes Leben – jeden Tag" , sagt die mittlerweile 82-jährige Kalesnikowa. In den 50er- und 60er-Jahren hat sie als junge Mutter in Semipalatinsk, das heute in Kasachstan liegt, dutzende Atombombentests miterlebt.
Eine der stärksten Atombomben wurde 1954 gezündet. Die Bevölkerung wurde erstmals über Radio vorgewarnt. Kalesnikowa war neugierig und ging auf die Straße. "Plötzlich erfasste mich eine Welle, schlug gegen meine Beine, sodass ich umfiel", sagt die Pensionistin, die eine Spezialpension von rund 200 Euro erhält. Seitdem hat sie Probleme mit ihren Beinen. Die Blutversorgung funktioniert nicht richtig.
Dabei hatte Kalesnikowa noch Glück. Viele Menschen lebten damals näher an dem Atombombentestgelände. Manche Häuser standen sogar innerhalb des Polygons. Die ehemalige Krankenschwester berichtet von Patienten, die mit blutenden Augen und Ohren in die Klinik kamen. "Wenn man ihr Haar berührte, fiel es einfach aus. Wenige Tage später waren sie tot", berichtet Kalesnikowa.
1949 zündete die Sowjetunion in Semipalatinsk ihre erste Atombombe. Bis 1989 wurden rund 456 Atombombentests in der kasachischen Steppe durchgeführt. In der Nähe des Polygons lebten damals 1,5 Millionen Menschen. Fünf Prozent des rund 19.000 Quadratkilometer großen Areals sind so stark mit Plutonium verstrahlt, das eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren hat, dass wahrscheinlich nie wieder ein Mensch einen Fuß auf diese Erde setzen wird können.
"Es ist eine sehr ernüchternde Erfahrung, hier zu stehen – nur zwei Kilometer von Ground Zero entfernt" , sagte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bei seinem Besuch auf dem Testgelände in Semipalatinsk. Ban hat den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew dazu aufgerufen, sich am Montag beim Atomsicherheitsgipfel in Washington für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Nasabarjew ließ den Polygon 1991 noch vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion schließen.
"Das Testgelände ist noch immer ein Monster, aber wir haben studiert, wie es sich verhält und wie man damit umgeht" , sagt Kajrat Kadyrschanow, Direktor des Nationalen Atomzentrums. Im kasachischen Umweltministerium denkt man sogar schon darüber nach, die ungefährlichen Teile des Polygons – rund 80 Prozent – wieder für die Besiedlung zu öffnen.
Für Menschen, die noch immer an den Folgen der Atomwaffentests leiden, schwer verständlich. Im Onkologischen Zentrum von Semej, wie Semipalatinsk heute genannt wird, werden jährlich 4000 Krebspatienten behandelt. Für die Behandlung der Patienten steht Direktor Marat Sandybajew jährlich ein Budget von rund fünf Millionen US-Dollar zur Verfügung. Das Geld wird vom Staat bereitgestellt. Die Behandlung ist für Strahlenopfer kostenlos.
Da die Therapie von Krebs, aber auch von Geburtsanomalien teuer ist, werden nicht immer alle Patienten als Strahlenopfer anerkannt. Im staatlichen Institut für Strahlenmedizin heißt es, dass es nicht möglich sei, die Erkrankungen mit der Strahlung in Verbindung zu bringen.
Kurmangeldy Mutdaschew kann ein Lied davon singen, wie die Regierung versucht, die Zahl der Patienten, die eine staatlich finanzierte Therapie erhalten, gering zu halten. Als vor vier Jahren sein Timur auf die Welt kam, sagten Ärzte der Familie, dass ihr Kind keine Überlebenschance habe. Timur kam in ein staatliches Kinderheim. Erst nach fast drei Jahren wurden die Eltern von der Polizei verständigt, dass ihr Sohn noch immer am Leben und der Tumor operabel sei.
Die Operation, die Timurs Gesicht verunstaltet hat, wurde noch vom Staat finanziert. Für künftige Operationen muss der Vater, der für eine Tochterfirma der staatlichen Eisenbahn arbeitet, selbst aufkommen. "Trotz der Empfehlung der Ärzte, Timur den Invalidenstatus zuzuerkennen, hat die Kommission ihn abgelehnt" , klagt Mutdaschew.
Für Kuljasch Dschakalykowa, Chefin der Pediatrischen Abteilung der Medizinischen Universität in Semej, ist klar, dass die Missbildungen, die seit den 60er-Jahren in der Region auftreten, in Zusammenhang mit der Radioaktivität stehen. "Wir gehen davon aus, da es in Hiroschima und Nagasaki die gleichen Defekte gegeben hat", sagt Dschakalykowa. (Verena Diethelm aus Semipalatinsk/DER STANDARD, Printausgabe, 10.4.2010)