
Schwer belastet: Budapester Vizebürgermeister Miklós Hagyó.
Das für jeden greifbare Sinnbild für die Korruption in Ungarn ist die "Nokia-Schachtel". In die Originalverpackung für das Mobiltelefon nebst Zubehör des finnischen Herstellers passen nämlich genau 15 Millionen Forint (rund 60.000 Euro). In diesen "Nokia-Schachteln", berichtete Zsolt Balogh, der ehemalige kommissarische Chef der Budapester Verkehrsbetriebe (BKV), habe er die von BKV-Auftragnehmern eingesammelten Bestechungsgelder dem sozialistischen Budapester Vizebürgermeister Miklós Hagyó überbracht.
Zehn mehr oder weniger prominente Untersuchungshäftlinge, 70 verdächtige Firmen, Euro-Millionen an Schadenssummen - die massive Korruption bei den BKV, die in den letzten Wochen von den Behörden aufgerollt wurde, ist bezeichnend für die Zustände in den ungarischen öffentlichen Verwaltungen. Hinter Gittern auf ihr Verfahren warten unter anderen ein ehemaliger BKV-Generaldirektor, eine ehemalige BKV-Personalchefin, der bisherige BKV-Chefjurist sowie Ernö Mesterházy, der Chefberater des liberalen Budapester Bürgermeisters Gábor Demszky. Der korrupte Chefjurist Gábor Sziebert wurde im vergangenen Dezember in der Tiefgarage eines Einkaufszentrums festgenommen, als er gerade von einem BKV-Subunternehmer 11,8 Millionen Forint Bestechungsgeld entgegennahm. Bei dieser Transaktion wurde allerdings keine "Nokia-Schachtel" , sondern ein Plastiksackerl verwendet. Vizebürgermeister Hagyó soll bisher der Festnahme nur deswegen entgangen sein, weil ihn die Immunität als Parlamentsabgeordneter schützt.
Das Schema der kriminellen Geldabschöpfung war im Wesentlichen überall dasselbe. Die BKV erteilten an private Firmen - Rechtsanwaltskanzleien, Planungsbüros, Consulting-Agenturen - fette Aufträge, die entweder drastisch überbezahlt waren oder in deren Gefolge überhaupt keine Leistung erbracht wurde. Ein entsprechender Prozentsatz dieser "arbeitslosen" Einkünfte floss dann - wie die Ermittlungsbehörden annehmen - über die Schienen Hagyó und Mesterházy an die Politik zurück, in diesem Fall Kreise aus der Sozialistischen Partei (MSZP) und den inzwischen verblichenen Freidemokraten (SZDSZ).
Die Korruptionsskandale wurden bekannt, weil die sozialistisch-liberale Herrschaft bereits lange vor den Wahlen zusammenbrach und die Ermittlungsbehörden, vor allem nach dem Rücktritt des sozialistischen Justizministers Tibor Draskovics im Dezember, nun freie Hand zu haben scheinen. Die Korruption unter sozialistischen und liberalen Amtsträgern hat insgesamt den Niedergang des linksliberalen Lagers in Ungarn nicht nur begleitet, sondern auch heftig angetrieben. (Gregor Mayer aus Budapest/DER STANDARD, Printausgabe, 10.4.2010)